Mit ihrem zweiten Kinofilm hat Sarah Winkenstette erneut einen besonderen Kinderfilm inszeniert, der dem Zielpublikum auf Augenhöhe von den Sommerferien eines Jungen mit Autismus-Spektrumsstörung bei seinen Großeltern erzählt. Wir haben uns mit der Regisseurin über ihren Film unterhalten, der am 8. Mai im Verleih von farbfilm ins Kino kommt.
„Grüße vom Mars“ wirkt wie ein sehr persönlicher Film. Waren Sie schon von Anfang dabei oder wurde das Projekt an Sie herangetragen?
Sarah Winkenstette: Tatsächlich war ich nicht ganz von Anfang dabei. Gestartet wurde das Projekt von Produzentin Anette Unger von Leitwolf Filmproduktion gemeinsam mit den Drehbuchautoren Thomas Möller und Sebastian Grusnick. Als Anette mich ansprach, gab es bereits erste Fassungen des Buchs, aber der Stoff stecke im Grunde noch in den Kinderschuhen. Wir hatten uns kennengelernt, als ich mit meinem ersten Kinofilm „Zu weit weg“ und sie mit ihrem Kinderfilm „Romys Salon“, eine niederländische Koproduktion, bei der sie als minoritäre Produzentin dabei war, auf Festivals unterwegs waren. Sie mochte „Zu weit weg“, wir mochten uns. Es war Anfang 2022, als sie mich auf „Grüße vom Mars“ aufmerksam machte. 2023 haben wir bereits gedreht. Ich habe das als sehr intensive Zeit in Erinnerung. Gemeinsam mit den Drehbuchautoren, die auch den zugrunde liegenden Roman geschrieben hatten, haben wir noch viel am Buch gearbeitet. Danach konnten wir schon mit dem Casting beginnen.
Wie war die Arbeit mit Thomas Möller und Sebastian Grusnick?
Sarah Winkenstette: Ganz ursprünglich sollte „Grüße vom Mars“ eine Serie werden. Als sich die Finanzierung als zu schwierig erwies, entstand erst einmal der Roman, der nun wiederum die Vorlage für den Film ist. Thomas und Sebastian sind ursprünglich Drehbuchautoren, hatten dank einiger Episoden von „Die Pfefferkörner“ bereits Erfahrung mit Familienstoffen. Insofern wussten alle immer, wovon wir sprachen. Es war immer konstruktiv, eine sehr gute, gewinnbringende Erfahrung. Insgesamt haben wir an den Figuren gefeilt, ihnen mehr zu tun gegeben, um sie eben auch präsenter sein zu lassen. Und wir haben die Geschichte insgesamt ein bisschen älter angelegt.
Was war Ihnen denn wichtig?
Sarah Winkenstette: Besonders gereizt hat mich die Hauptfigur. Diesen Jungen fand ich spannend, seine Erlebniswelt, wie er die Welt sieht. Auch das haben wir im Drehbuch noch stärker in den Fokus gerückt, wir sind im Film jetzt näher an ihm dran, sehen die Ereignisse durch seine Augen. Ich wollte erlebbar machen, wie ein Junge mit Autismus-Spektrumsstörung die Welt sieht. Das geht nur, wenn man komplett aus seiner Perspektive erzählt. So konnten wir zum Beispiel mit Linien arbeiten, um verständlich zu machen, wie analytisch er denkt. Er sieht mehr, er hört mehr und kann das nicht so gut filtern. Wenn Menschen mit Autismus-Spektrumsstörung in einem Café sitzen, hören sie die Gespräche am Nachbartisch und am nächsten Tisch genauso wie die ihres Gegenübers. Außerdem hören sie die Autos, die draußen vorbeifahren, und die Uhr ticken und das Telefon klingeln. Es prasselt fortwährend ein Maximum an Informationen auf sie ein, ohne dass sie in der Lage sind, das für sich Wesentliche rauszufiltern. Volle Räume bedeuten für sie ebenso eine Überforderung wie plötzliche, laute, unerwartete Dinge – auditiv ebenso wie visuell.
„Es ist leicht gesagt: Man nimmt mehr wahr. Aber wie vermittelt man das in einem Film?“
Haben Sie sich von Experten beraten lassen?
Sarah Winkenstette: Unbedingt. Wir wollten auf keinen Fall irgendetwas leichtfertig behaupten. Bevor ich an Bord kam, stand die Produktion bereits in Kontakt mit Autismus-Experten. Das Drehbuch wurde mehrfach vom Deutschen Autismusverband gegengelesen. Ich komme aus Rheda-Wiedenbrück in der Nähe von Bielefeld und hatte das Autismuszentrum Gütersloh als Partner. Dort wurde das Buch ebenfalls noch einmal gelesen. Und mit den Experten dort habe ich viele Dinge erst einmal theoretisch besprochen. Später habe ich dann auch Kinder mit Autismus-Spektrumsstörung getroffen, sowohl in ihrem Alltag wie auch bei Therapiesitzungen. Ich wollte ihnen zusehen, wie sie sich verhalten. Das war entscheidend, um die Zwischentöne auch wirklich inszenieren zu können. Ein spezieller Junge war für mich dann so etwas wie eine Blaupause für Tom. Er hatte ebenfalls eine Inselbegabung, interessiert sich sehr für Axolotl. Er hatte immer Legosteine, die er zusammengefügt und wieder auseinandergenommen hat, setzte sich Kopfhörer auf, wenn ihm alles zu viel wurde, um sich wieder sammeln zu können. Das war sehr hilfreich für den Film.
Wie zeigt man Autismus in einem Film?
Sarah Winkenstette: Wir haben früh mit unserem Kameramann Jakob Berger die Köpfe zusammengesteckt und genau das überlegt. Es ist leicht gesagt: Man nimmt mehr wahr. Aber wie vermittelt man das in einem Film? Mit welcher Optik kann man das gewünschte Ziel erreichen, wie geht man mit Schärfen um? Viele Menschen mit Autismus-Spektrumsstörung haben gelernt, ihrem Gesprächspartner auf die Stirn zu kucken anstatt in die Augen. Oder sie kucken ganz weg, wenn es ihnen zu viel wird. Das haben wir versucht, in die visuelle Gestaltung aufzunehmen: Wenn die Mutter mit ihm spricht, schwenken wir mit der Kamera auf den Boden. Da fühlte ich mich als Filmemacherin gefordert, aber auch als Erzählerin und hoffe der Zielgruppe etwas vermitteln zu können. Experten glauben, dass 1 Prozent der Weltbevölkerung eine Autismus-Spektrumsstörung hat. Die Wahrscheinlichkeit, das man jemand kennt, der hochsensibel ist oder eine ausgeprägtere Störung hat, ist sehr groß. Teilweise wissen die Leute es selbst nicht, weil sie niemals diagnostiziert wurden.
Hinzu kommt aber noch die ganze Weltallgeschichte.
Sarah Winkenstette: Ich habe das Drehbuch gelesen und wusste genau: Die Heldengeschichte steht und fällt damit, ob das Publikum wirklich glaubt, dass er diesen Kometen findet und wie er das macht. Das war eine Riesenbaustelle. Schließlich haben wir uns intensiv mit einem Astrophysiker ausgetauscht, damit das im Film nachvollziehbar und glaubwürdig ist. Wie sehen die Geräte aus, was für Programme braucht er, welche Flugbahn ist logisch? Es war viel. Aber es war wichtig, sonst würde die ganze Geschichte nicht funktionieren. Ich hasse es, wenn Kinderfilme ihr Publikum nicht ernstnehmen und Logik und Glaubwürdigkeit hintenanstellen. Dabei ist Kindern Logik total wichtig.
„Ich hasse es, wenn Kinderfilme ihr Publikum nicht ernstnehmen.“
Die Erdung der Geschichte lässt am Ende auch die Emotionalität besser funktionieren: Es ist nicht behauptet, es ist erarbeitet.
Sarah Winkenstette: Natürlich ist es reine Behauptung, dass Tom all das allein schaffen kann. An dieser Stelle haben wir uns erlaubt, ein kleines bisschen auch modernes Märchen zu sein. Es ist eine Fiktion, keine Frage. Aber das Drumherum, die Berechnungen, die Physik: All das hatte Hand und Fuß. Und macht dann vielleicht und hoffentlich auch die Behauptung glaubwürdig.
Es steht in einer guten Tradition des Familienfilms, dass Kinder in ihnen etwas schaffen, was den Erwachsenen nicht gelingt. Ein bisschen Kino darf schon sein!
Sarah Winkenstette: Stimmt, Kino muss auch ein bisschen larger than life sein. Nach den ersten Vorführungen habe ich dennoch bei den Kindern nachgefragt, wer von ihnen glaubt, dass Tom es schafft, Astronaut zu werden. Fast alle haben aufgezeigt. Das war eine schöne Belohnung. Da wusste ich, diese Anstrengungen haben sich ausgezahlt. Man soll mit einem Hochgefühl aus dem Kino gehen – und nicht mit der Überzeugung, der Film habe einen gerade an der Nase herumgeführt. Rückblickend freue ich mich, dass uns das gelungen ist.
Das Gespräch führte Thomas Schultze.