Der Filmemacher und Mitgründer von Filmfaust feierte mit seinem neuen, Drama „Hysteria“ Weltpremiere bei der Berlinale. Am 6. November startet der Film im Verleih von Rapid Eye Movies. Wir fragten Mehmet Akif Büyükatalay zum Fokus in seinem Werk und von Filmfaust.

Sie waren mit „Hysteria“ seit der Berlinale-Premiere im Panorama auf mehreren Festivals und auf Kinotour. Wie waren die Reaktionen?
Mehmet Akif Büyükatalay: Berauschend. Gerade in Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung und Polarisierung erwarten viele Menschen, weil der Film heikle Themen anspricht, oft eine harte, vereinfachende Positionierung. Aber Positionierung ist nicht immer eine Haltung! Vor allem nicht, wenn wir der komplexen Welt, in der wir uns bewegen, gerecht werden wollen. Deshalb sind die Zuschauer:innen enorm erleichtert und ergriffen, dass der Film sich vielmehr mit den Dynamiken auseinandersetzt, die zu Misstrauen, Spaltung und gesellschaftlicher Hysterie führen, als mit Schuldzuweisungen, ohne dabei die Ungerechtigkeiten, Machtstrukturen und Rassismen zu vernachlässigen. Ich merke, dass das Publikum nicht nur den Film als Verschwörungsthriller mit seinen grandiosen Schauspieler:innen genießt. Sie empfinden in der Vielschichtigkeit der Figuren und Perspektiven, in der Darstellung migrantischer Lebensrealitäten und vor allem in der Weigerung, die Welt zu vereinfachen, einen Ausdruck ihrer eigenen Gefühle. Das gibt mir über den Film hinaus Hoffnung, dass die Mehrheit der Menschen sich intensiv mit der komplexen Welt auseinandersetzen will, anstatt auf einfache Antworten und Polarisierung zu setzen. Aus dieser Hoffnung leite ich auch eine Aufgabe ab: Wir als Bildermacher:innen haben eine enorme Verantwortung, wie wir die Welt abbilden und Menschen reproduzieren.
Sie und Claus Herzog-Reichel sind mit Ihrer Firma angetreten, Filme zu machen, die zum politischen, gesellschaftlichen Diskurs anregen und Vielfalt propagieren. Könnten Sie ausführen?
Mehmet Akif Büyükatalay: Wir sind überzeugt, dass die Sichtbarkeit und Vielfalt aller künstlerischen und politischen Stimmen für unsere Kultur und Gesellschaft unverzichtbar sind. Wir brauchen den Dialog aller Stimmen, und je widersprüchlicher, desto besser. Demokratie lebt vom Diskurs. Unser Fokus liegt dabei gezielt auf Stimmen, die es aufgrund von Klasse, Race oder Geschlecht schwerer haben, sich bei traditionellen Fördertöpfen durchzusetzen. Allein Smalltalk kann eine strukturelle Barriere darstellen, wenn man nicht dem akademischen, weißen Mittelschichts-Durchschnitt entspricht. Aber wir brauchen die Vielfalt im Kino, wir brauchen die Innenansicht, nicht den Blick von Außen. Deshalb glauben wir fest an das Kino des Kollektivs und der gegenseitigen Unterstützung. Unser Ziel ist es, durch diese vielstimmigen und auch kontroversen Blickwinkel einen echten Dialog anzustoßen. Dabei sehen wir einen entscheidenden Vorteil: Gerade weil diese Filmschaffenden mehr kämpfen und sich intensiver mit sich und ihrem Umfeld auseinandersetzen müssen, entsteht hier oft ein enorm kraftvolles und relevantes Kino, welches das Publikum tief berührt und anregt.
„Unser Ziel ist es, durch diese vielstimmigen und auch kontroversen Blickwinkel einen echten Dialog anzustoßen.“
Der Name Filmfaust spricht für einen kämpferischen Ansatz. Wie weit gehen Sie?
Mehmet Akif Büyükatalay: Unser Kampf gilt in erster Linie den Projekten und den Visionen unserer Autor:innen. Wir glauben an die Einzigartigkeit der Filme, die wir entwickeln, und begleiten sie von der allerersten Idee bis zum roten Teppich. Dabei setzen wir alles daran, die Vision unserer Autor:innen bestmöglich zu realisieren. Wir unterstützen sie auf ästhetischer, filmischer und emotionaler Ebene und legen gleichzeitig großen Wert auf die finanzielle und produktionstechnische Machbarkeit jedes Projekts. Dieser Kampf findet aber nicht nur nach außen statt, sondern vor allem in uns, mit uns selbst. Wir diskutieren leidenschaftlich, hinterfragen kritisch und setzen uns intensiv mit jedem Stoff auseinander, politisch wie künstlerisch. Unser Ziel ist stets, jede Vision in ihrer bestmöglichen Form zum Leben zu bringen.
Warum wählten Sie für „Hysteria“ eine Film-im-Film Erzählung als Rahmen, um Vorurteile, kulturelle Differenzen und Hysterie zu verhandeln?
Mehmet Akif Büyükatalay: Ich habe die Film-im-Film-Erzählung in „Hysteria“ gewählt, weil sie das ideale Gerüst bietet, um die Macht der Bilder und ihre Dynamik sichtbar zu machen. Es geht uns darum, sichtbar zu machen, wie das Bild des ‚Anderen‘ konstruiert wird und wie diese Bilder unsere Wahrnehmung trüben und zwischenmenschliche Beziehungen behindern. Bilder haben oft mehr Macht als die abgebildeten Menschen selbst; diese sind den Fremdbildern oft ohnmächtig gegenüber, während jene unsere Vorstellungen, Vorurteile und Ängste machtvoll prägen. Dabei sind wir alle einer ständigen Bilderflut ausgesetzt, der wir uns eigentlich zuwenden, um die komplexe Welt zu verstehen – aber sie löst das Gegenteil aus. Genau dieser Bilderwahn überfordert uns, verwischt die Realität und wird quasi zu einer Art größerer, „echteren“, aber verzerrter Ersatzrealität. Dies führt zur kollektiven Paranoia, einem Zustand, in dem wir nicht mehr miteinander sprechen können und im Anderen den größtmöglichen Feind sehen, was dann schlussendlich in gesellschaftlicher Hysterie endet. Genau hier setzt unsere Erzählstruktur an: Mit dem Film-im-Film-Thema machen wir im doppelten Sinne sichtbar, wie diese Bilder entstehen und welche enorme Wirkung sie auf die Beteiligten und das Publikum haben. Dadurch schafft der Film einen reflexiven Rahmen, um Vorurteile, kulturelle Differenzen und die Dynamik von Hysterie kritisch zu beleuchten und zu verhandeln – mit der Hoffnung, dass wir es das nächste Mal anders machen.
Der Film ist sehr vielschichtig, nicht einfach. Wie schwer war es, ihn auf die Beine zu stellen?
Mehmet Akif Büyükatalay: Es war tatsächlich eine enorme Herausforderung. Mein Ziel war es, einen Film zu machen, in dem alle sechs Figuren aus ihrer Position heraus im Recht und damit Getriebene ihrer eigenen Wahrheit sind. Denn schnell merkte ich: Hysterie entsteht, wenn alle zwar recht haben, aber behaupten, allein im Recht zu sein. Die Schwierigkeit lag darin, allen Figuren gleichermaßen gerecht zu werden und dabei die zugrundeliegende Ungerechtigkeit und die Machtstrukturen abzubilden. Ich wollte das Menschliche fühlbar machen, während ich gleichzeitig das Systematische durchleuchtete. Denn oft greifen Filme einzelne Menschen oder Gruppen an, haben schnell den Zeigefinger oben, arbeiten mit Schuldzuweisungen oder einfachen Gut-Böse-Schemata, anstatt die strukturellen Dynamiken und komplexen Ursachen eines Konflikts anzuschauen. Diese Balance zu halten, war die größte Hürde bei der Realisierung.
„In Deutschland laufen wir oft Gefahr, Genrekino und politische Filme gegeneinander auszuspielen.“
Laut Firmenhomepage entwickeln Sie mit „Ceasar“ und „Kleopatra“ Ihre nächsten Projekte, die nach der Kurzsynopsis zu urteilen noch stärker mit dem Thriller, Krimi, Gangstergeschichte liebäugeln als „Hysteria“. Wie sehen Sie die Balance zwischen Gesellschafts- bzw. Sozialdrama und Genre in Ihrer Arbeit?
Mehmet Akif Büyükatalay: Ich möchte, dass jeder Film, den wir machen, zuallererst ein Kinoerlebnis ist. Mein Ziel ist, dass das Kinoherz pocht, während der Film das Publikum emotional packt und intellektuell aufwühlt und dabei Fragen stellt, mit denen sich die Zuschauer:innen auch nach dem Film noch auseinandersetzen. In Deutschland laufen wir oft Gefahr, Genrekino und politische Filme gegeneinander auszuspielen. Das ist wahrscheinlich ein Resultat der Fördersysteme: Entweder bist du das eine oder das andere! Ich selbst bin mit Genrefilmen aufgewachsen, die mich filmisch unterhalten und in den Bann gezogen haben, mich zugleich aber mit wichtigen Fragen konfrontiert und so mein Weltbild erweitert haben. Ich denke dabei an Werke von Roman Polanski, Spike Lee oder Michael Haneke. Auch unser Film „Hysteria“ ist im Kern ein Verschwörungsthriller, der abseits aller politischen und intellektuellen Ansätze ein cineastisches Erlebnis ist. Ich möchte filmisch maximal unterhalten und dabei komplexe, gesellschaftlich relevante Themen behandeln. Für mich ist das kein Widerspruch, sondern der Weg zum relevanten und zugleich zugänglichen Kino.
Das Gespräch führte Heike Angermaier.