Bei unserem Aufenthalt auf dem International Film Festival Rotterdam haben wir auch die Gelegenheit ergriffen, uns mit Marten Rabarts hinzusetzen. Er leitet seit Oktober 2024 den Industry-Bereich des traditionsreichen Festivals und hat uns einen Überblick über diesjährige Highlights und den Status-quo der unabhängigen Filmszene gegeben.
2025 ist Ihr erstes Jahr als Leiter von IFFR Pro. Sie hatten nicht viel Zeit, sind erst im Oktober 2024 an Bord gekommen. Wie haben Sie diese Aufgabe in so kurzer Zeit bewältigt?
Marten Rabarts: Es war wie ein Sprung auf einen schnell fahrenden Zug. Aber der Zug fuhr ja auf den richtigen Schienen, wissen Sie, dank des großartigen Teams, das wir bei IFFR Pro haben, das genau weiß, welche Basis gelegt werden muss. Es war also alles im Gange, als ich die Leitung übernommen habe.
Aber Herausforderungen gab es doch sicher trotzdem?
Marten Rabarts: Der größte Druck bestand anfangs in der Auswahl für unseren Filmmarkt CineMart. Wir hatten über 500 eingereichte Projekte, und wir konnten nur 20 bis 25 auswählen. Das war ein riesiger Filter- und Überprüfungsprozess, an dem wir auch mit externen Berater:innen zusammenarbeiten. Es war also durchaus eine komplexe Angelegenheit, das Ruder bei IFFR Pro zu übernehmen. Aber es war genau der richtige Zeitpunkt für mich, um einzusteigen, weil es eine virulente Frage zu erörtern galt, die Frage nach der DNA von CineMart. Es ist der älteste Koproduktionsmarkt der Welt, 42 Jahre alt. Und wir wollen wirklich zum Kern zurückkehren, der auch dem Filmfestival zu Grunde liegt.
„Unsere Auswahl ist künstlerisch und politisch gleichzeitig.“
Das IFFR zeichnet sich dadurch aus, dass es Filmen und Filmschaffenden eine Bühne bietet, die sonst oft unsichtbar bleiben würden…
Marten Rabarts: Genau. Hierauf zielt auch CineMart ab. Wir wollen Projekte zur Realisierung verhelfen, die es in ihren Ursprungsländern schwer haben, die künstlerisch unangreifbar sind und die sich auch trauen, die Grenzen der Kinosprache zu sprengen. Innovative Arbeiten durch und durch. Außerdem war es mir sehr wichtig, dass unsere Auswahl den Zustand der Welt spiegelt. Denn die Welt steht in Flammen! Uns war es ein Anliegen, Projekte einzuladen, die durch die Stimme der Künstler:innen auf die mancherorts existentielle Bedrohung hinweisen, zum Beispiel von queeren Communitys. Es herrscht viel Angst, die durch die erzählten Stoffe durchschimmert. Aufgefallen sind uns Stoffe von queeren Filmschaffenden aus verschiedenen Teilen der Welt, die dystopische Geschichten aus der nahen Zukunft erzählen. Ein Ausdruck ihrer Ängste. Wir haben uns wirklich bemüht, bei der Auswahl die künstlerischen Stimmen mit der stärksten Handschrift herauszufiltern, die aber auch gleichzeitig persönliche Sorgen über die Gesellschaft und die Welt einbeziehen. Das wurde zu einem wichtigen Parameter für uns. Unsere Auswahl ist deshalb künstlerisch und politisch gleichzeitig. Dafür steht auch das Filmfestival. Wir möchten ein Ort sein, an dem das Licht auf die Filmschaffenden gerichtet ist, an dem sie sich nicht verstecken müssen, wie vielleicht in ihren eigenen Ländern.
Auch der Hubert Bals Fund unterstützt Projekte, die dieser DNA folgen.
Marten Rabarts: Richtig. Unsere Arbeit ist eng mit dem Hubert-Bals-Fonds abgestimmt. Wir haben eine Reihe von Projekten bei CineMart, die mit Hilfe des Hubert Bals entstehen. Der dieses Jahr neu mit Cate Blanchett und dem Hubert Bals Fund initiierte Displacement Film Fund vertieft unser Anliegen. Mit ihr als Sonderbotschafterin der UNHCR und tollen, einflussreichen Sponsoren können wir künftig aus ihren Ländern vertriebene Filmschaffende unterstützen.
Was ist sonst noch neu bei IFFR Pro?
Marten Rabarts: Wir konnten unsere Work-in-Progress-Schiene „Darkroom“ verdoppeln, dieses Jahr sind zehn Spielfilmprojekte und zwei immersive Arbeiten dabei. Die Projekte in „Darkroom“ sind bereits weit gediehen und suchen in Rotterdam noch Gap-Finanzierungs-Partner, Sales Agents, Festivaleinladungen etc. Außerdem ist neu, dass wir hier einen Fokus legen, dieses Jahr auf georgische Filmschaffende. Die drei ausgewählten Filme aus Georgien sind Uta Berias „Tear Gas“; „Dry Leaf“ von Alexandre Koberidze, und Rati Oneli stellt „Wild Dogs Don’t Bite“ vor. Die neue georgische Regierung macht es Kulturschaffenden nicht leicht. Die Filme wurden zwar auf traditionelle Art und Weise mit Hilfe der georgischen Filmförderung in Angriff genommen. Allerdings bekommen sie jetzt das Geld nicht ausgezahlt, um sie fertigzustellen. Ähnliches spielt sich in Argentinien ab. Auch dort ist die kreative Gemeinschaft durch eine rechtsgerichtete Regierung bedroht. Ein Beispiel ist „Faust“ von Jazmín López in CineMart. Das Projekt bekommt null Fördergelder aus Argentinien, obwohl es eine argentinische Geschichte ist. Der deutsche Koproduzent Schuldenberg Films ist Hauptproduzent geworden. Argentinien ist jetzt der minoritäre Partner.
„Das Erlebnis Kino halten wir in Rotterdam hoch.“
Über Zahlen zu reden, ist immer ein bisschen langweilig. Aber dennoch ist es wichtig. Die große Anzahl der Einreichungen für CineMart haben Sie bereits angesprochen. Wie sieht es hinsichtlich der Akkreditierungen bei IFFR Pro allgemein aus?
Marten Rabarts: Wir sind zurück auf dem Stand von vor der Corona-Pandemie. Darüber bin ich wirklich glücklich. Wir sind berühmt für unsere Networking-Events, wir sind berühmt für die Drinks und die Partys. Dort werden auch Geschäfte gemacht! Wir haben viel Industry hier, die nicht mit einem Projekt bei IFFR Pro oder dem Filmfestival vor Ort ist. Wir haben etwa 800 Akkreditierte mit CineMart-Badge und dazu etwas mehr als 1400 Akkreditierte aus der Industry allgemein. Insgesamt sind es 2205 Akkreditierte bei IFFR Pro. Es freut mich sehr, dass die Menschen wieder so zahlreich kommen. Mir war auch wichtig, die Botschaft zu vermitteln, dass wir zurück sind im Kino und wir das Erlebnis Kino in Rotterdam hochhalten.
Zuletzt waren sie Leiter des New Zealand International Film Festival… Werden Sie das vermissen?
Marten Rabarts: Ich fahre auf alle Fälle hin. Das schon. Aber eben nur als Gast. Einen Teil meiner freien Zeit werde ich sicherlich auch weiterhin in Neuseeland verbringen. Aber mein Job bei IFFR Pro ist ein Vollzeitjob, deshalb habe ich mir auch ein Haus in Utrecht gekauft. Ich liebe das New Zealand International Film Festival, und es ist schön zu sehen, wie es nach der Pandemie wieder an Stärke gewinnt. Die Pandemiejahre waren eine große Herausforderung.
Sie sind ein Kenner der unabhängigen Filmindustrie und der Welt der Filmfestivals. Wird die Rolle von Filmfestivals wie dem IFFR in Zukunft noch wichtiger in einem weltweiten Kinomarkt, der für den unabhängigen Film nicht so ganz leicht ist?
Marten Rabarts: Ich glaube schon, dass die Rolle von Filmfestivals noch wichtiger wird. Aber es gibt zwei Seiten. Die eine ist, dass wir bei Filmfestivals wirklich oft gute Zuschauerzahlen haben und dass sie fast die ausschließliche „Kinoauswertung“ eines Films markieren. Auch die Besucherzahlen des IFFR sind dieses Jahr weiter gestiegen. Festivals sind allgemein ein wichtiger Baustein für die Kinoauswertung eines Films. Auf der anderen Seite stelle ich fest, dass viele unserer Filme, die hier Weltpremiere feiern in den verschiedenen Wettbewerben, aber eben doch Verleiher finden, weil wir auf ein sehr spezialisiertes Klientel ausgerichtet sind. Die Filmeinkäufer, die zu uns kommen, gehen nicht zum AFM, die suchen nicht Filme, wie sie dort angeboten werden. IFFR und IFFR Pro ist ein guter Match-Making-Place, weil wir für ganz spezielle Filme stehen und wir damit entsprechend spezielle Verleiher und Weltvertriebe anlocken. Die großen Verleiher, die vor fünf oder sechs Jahren noch alles aufgekauft haben, ihre Kataloge gefüllt haben, sind von diesem Markt verschwunden. Aber die schon immer auf diese Art von Filmen spezialisierten Verleiher sind nicht verschwunden. Sie waren natürlich verschreckt von den Preisen, die die Streamer gezahlt haben, konnten da nicht mithalten und mussten zurückstecken. Aber jetzt sind sie wieder gefragt und kommen immer noch gerne zu uns. Das heißt nicht, dass es einfacher geworden ist, diese Art von unabhängigem Film auszuwerten. Aber das war noch nie einfach. In diesem Geschäft ist man, weil man liebt, was man tut. Darauf kommt es an.
Das Gespräch führte Barbara Schuster