Kirill Serebrennikov war beim 21. Marrakech International Film Festival einer der Stargäste der Conversation-Reihe. SPOT bat den Exil-Russen mit Wohnsitz in Berlin zum Interview.
Wie geht es Ihnen – nach all den doch aufregenden Jahren für Sie?
Kirill Serebrennikov: Ach, ich arbeite sehr viel! Das liebe ich am meisten. Ich lebe seit 2022 vornehmlich in Deutschland, bin aber auch in Frankreich, Österreich und der Schweiz unterwegs und beschäftige mich mit Opern- und Theaterinszenierungen, aber auch Filmprojekten. Gerade erst feierte „Legende“ Premiere im Hamburger Thalia Theater. Eine ziemlich fette Produktion, vier Stunden Theater, Oper, Tanz. Eine Koproduktion mit der Ruhrtriennale 2024 und meiner Kirill & Friends Company. Und am nächsten Tag ging es auch schon weiter zum Marrakech International Film Festival. Viel Zeit habe ich allerdings leider nicht… die nächsten Proben stehen wieder an…
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine herrscht eine große Russland-Phobie. In vielen Ländern nimmt man Abstand vor der Zusammenarbeit mit russischen Künstlern. Was bekommen Sie zu spüren?
Kirill Serebrennikov: Das war zum Beispiel der Grund, weshalb ich die Einladung eines sehr guter Theaterintendanten in Polen ausgeschlagen habe, auch meine Freunde haben mir abgeraten. Ich verstehe das auch. Der Krieg ist für uns alle schmerzhaft. Krieg ist immer Selbstmord. Es ist das größte Desaster, das Russland erlebt. Russland ist ein verrücktes Kriegsverbrecherland geworden. Sehr gewalttätig, sehr frustriert. Für die Ukraine ist das alles furchtbar, aber immerhin formieren sie ihre nationale Identität, sie sind die Starken, die Mutigen.
„Keiner in Deutschland interessiert sich für meine Filme. Ich weiß nicht, warum.“
Hand aufs Herz: Sind sie der Politik nicht längst überdrüssig?
Kirill Serebrennikov: Ich hasse die Politik, aber ich kann sie nicht ausklammern. Klar, jeder will in seiner eigenen Bubble leben. Das geht nicht! Das ist nicht möglich. Denn die Politik durchdringt unsere Leben in jeder Sekunde. Wir haben ein lustiges Sprichwort: Wenn dich die Politik nicht interessiert, hat die Politik ein Interesse an dir.
Wie haben Sie sich in Berlin eingelebt?
Kirill Serebrennikov: Als Filmemacher bin ich in Deutschland absolut unbekannt. Keiner hier interessiert sich für meine Filme, sieht sie im Kino an. Ich weiß nicht, warum. Ich arbeite viel an deutschen Theatern. Aber als Filmregisseur werde ich ignoriert. Das ist schon irre.
Aber Sie machen tolles Kino! In Ihren Filmen finden sich Figuren, die Hürden überwinden, die durch Wände brechen, manchmal sogar Kopf voraus. Glauben Sie an die explosive Kraft des Kinos? Kann Kino einen Wandel herbeiführen?
Kirill Serebrennikov: Diese explosive Kraft ist Teil meiner DNA, meiner Identität. Ich bin ein Produkt von Perestroika, der Post-Soviet-90s, als sich alles änderte, man zumindest das Gefühl hatte, dass sich alles ändert. Ich wurde beeinflusst von Filmen, von Büchern, in Summe von all diesen Schätzen und Hinterlassenschaften, die aus der ehemaligen Sowjetunion verbannt wurden. Es gab eine Explosion an Filmen… Das hat mich sehr beeinflusst. Ich glaube fest daran, dass Film, Kunst allgemein, die Menschen verändern kann.
„Hansjörg Weißbrich ist einfach der Beste.“
Während des Drehs von „Leto“ wurden Sie verhaftet, mussten ihn heimlich fertigstellen. An was erinnern Sie sich?
Kirill Serebrennikov: Ich erinnere mich nicht mehr gut. Ich weiß nur noch, dass es einer der schrecklichsten Abschnitte meines Lebens war. Der Dreh glich dann einer Spionagekomödie. Ich liebe vor allem die junge Generation. In Frankreich kommen Teenager auf mich zu und sprechen mich mit „Monsieur Leto“ an. Der Film erlangte einen großen Bekanntheitsgrad aufgrund meiner Verhaftung. Aber meine anderen drei Filme haben eine ebenso große Bedeutung für mich, vielleicht sogar noch eine größere, weil ich damit bestimmte Dinge ausdrücken wollte.
Sind alle Ihre Filme in Russland verboten?
Kirill Serebrennikov: Ja, auch ich als Person. Ich stehe dort eigentlich auf allen schwarzen Listen, die es gibt. Für Theater, für Film. Journalisten ist verboten, meinen Namen in Artikeln abzudrucken. Ihn überhaupt abzudrucken. Ich gehöre seit 23 Jahren ins Repertoire des Moscow Art Theater. Bei den jeweiligen Stücken steht in der Rubrik „Regisseur“ nur „Regisseur“ – ohne Namen.
Das kommt einem Ausradieren aus den Geschichtsbüchern gleich.
Kirill Serebrennikov: Ja absolut. Sie tun ihr Bestes.
Wir dürfen uns auf einen neuen Film von Ihnen freuen: Sie haben „Disappearance“ fertiggestellt, eine Verfilmung des Tatsachenromans „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Oliver Guez, der auch das Drehbuch schrieb. Zum ersten Mal haben Sie mit deutschem Talent gearbeitet. Auch hinter der Kamera waren Kreative aus Deutschland beteiligt. U.a. Hansjörg Weißbrich im Schnitt und Suse Marquardt als Casting Director… Erzählen Sie mehr!
Kirill Serebrennikov: Auf Deutsch, mein erster Film auf Deutsch!
Welche Erfahrung haben Sie gemacht?
Kirill Serebrennikov: Es war toll. Ich bin schwer beeindruckt, vor allem von Hansjörg Weißbrich als Editor. Er ist einfach der Beste! Insgesamt hat sich alles organisch, natürlich ergeben. Ich lebe in Deutschland, in der deutschsprachigen Welt. Ich spreche Deutsch zwar nicht fließend, aber ich verstehe die Sprache. Die Arbeit mit deutschen Schauspielern ist easy, überhaupt kein Problem. Ich liebe sie, kenne viele, mit vielen bin ich befreundet.
Was hat Sie an der Geschichte von „Disapearance“ interessiert?
Kirill Serebrennikov: Es geht um das Verschwinden von Josef Mengele im Dschungel und seinen Sohn, der zu ihm kommt und ihm schmerzhafte Fragen stellt über seine Vergangenheit. In den 1970er Jahren, als diese Fragen nach den Kriegsverbrechen noch nicht so aufgearbeitet waren.
„Die Quelle des Bösen sitzt in der menschlichen Seele.“
Sie arbeiten sowohl in der Theater/Opernwelt und in der Filmwelt. Haben Sie unterschiedliche Herangehensweisen?
Kirill Serebrennikov: Das sind komplett verschiedene Welten. Das ist wie Doktor Jekyll und Mr. Hyde. Die jeweils anderen Seiten von mir kommen zum Vorschein. Was ist der größte Unterschied? Ich würde sagen, im Film bist du gezwungen, die Realität nachzubilden. Du musst die Leute glauben machen, dass es real ist. Im Theater ist es genau andersherum. Da kann ein Schauspieler auf die Bühne kommen, mit einem Stock in der Hand und behaupten, dass es ein Baum ist. Wir müssen hier mit unserer Fantasie arbeiten. Das ist total anders.
Sie erzählen Filme oft über schlimme Menschen. Und doch stellen Sie sie nicht bloß.
Kirill Serebrennikov: Zumindest versuche ich das. Ich könnte keine Filme machen, wenn mich die Figuren nicht interessieren. Selbst wenn die Figur ein Monster ist. Selbst wenn es jemand wie Limonov ist, der nicht ein totales Monster ist, sondern ein komplizierter, komplexer Mensch. Er ist ja auch Poet und sehr speziell. Oder ein Monster wie Mengele. Ihn kann man nicht gutheißen, ihn kann man nicht bemitleiden oder eine Rechtfertigung für seine Taten finden. Aber die Erkenntnis, die am meisten Angst einjagt, die am schrecklichsten ist, ist die Tatsache, dass wir entdecken müssen, dass er ein Mensch ist. Die Quelle des Bösen sitzt in der menschlichen Seele. Alle Monster leben in uns.
Glauben Sie, dass Sie jemals einen Film machen können, der nur als Film, nicht zeitgleich auch immer als politisches Statement betrachtet wird?
Kirill Serebrennikov: Wer weiß? Ich glaube nicht. Ich halte jegliche Form von Kunst für politisch. Selbst wenn wir „Romeo und Julia“ inszenieren oder „König Lear“. Oder „Pinocchio“. Es ist immer politisch, weil es einen Dialog anstößt. Es ist automatisch ein Dialog, wenn ich etwas zu einem Publikum sage, wenn ich mich mit einem Film, einem Theaterstück an ein Publikum wende. Die Konversation an und für sich ist politisch. Ich teile mit meinen Arbeiten meine Ideen, meine Gedanken, meine Motivationen, meine Ängste, meine Frustrationen mit den Leuten. Das ist Politik.
Das Gespräch führte Barbara Schuster