Trotz eng gestecktem Zeitplan nahm sich der britische Kameramann und Oscarfavorit Lol Crawley beim 54. IFFR für THE SPOT die Zeit, um über „Der Brutalist“ zu sprechen, die besondere Beziehung zu Brady Corbet, den Einfluss von Robby Müller auf seine Arbeit und seinen liebsten VistaVision-Film.

Gleich mal mit der Tür ins Haus gestolpert: Was macht Sie besonders stolz an „Der Brutalist“?
Lol Crawley: Was macht mich besonders stolz? Das ist eine interessante Frage. Ich denke, die Tatsache, dass Brady mit „Der Brutalist“ unapologetisch und wie selbstverständlich entschieden hat, dass er zu einer früheren Form des Kinos zurückkehren will, zu einer Zeit, in der das Kino wirklich eine Leinwanderfahrung war. Dass er ohne um den heißen Brei zu reden bestimmt hat, dass wir in VistaVision drehen, dass der Film die Länge haben wird, die er eben haben wird, die er verdient hat. Dass es eine Intermission geben wird, dass wir in 70 Millimeter projizieren werden. Und es gab eine Menge Nein-Sager. Ich will keine Namen nennen, aber Leute, die einfach nicht damit einverstanden waren, wissen Sie. Und ich verstehe das, weil man sich immer auch in wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bewegt und diese Herangehensweise einfach eine ungewöhnliche Sache im aktuellen Verleihmarkt ist. Deshalb bin ich sehr stolz darauf, dass er sich durchgesetzt hat. Und die vielen Lobeshymnen, die Nominierungen usw. sprechen für sich. „Der Brutalist“ wurde in nur 33 Tagen gedreht, hat zehn Millionen Dollar gekostet, wurde auf Film gedreht und projiziert. Mein größter Wunsch ist, dass sich andere Filmschaffende davon inspirieren lassen, weil „Der Brutalist“ ein Beispiel dafür ist, dass wir all das immer noch auf dem Kasten haben. Man sagt uns zunehmend, dass wir digital drehen müssen. Dass Film tot ist. Das ist Blödsinn. Das ist wirklich Unsinn.
Was hat es für Ihre Arbeit bedeutet, in VistaVision zu drehen? Sicherlich mussten Sie anders vorgehen, als Sie es vielleicht üblicherweise tun… Was haben Sie dabei gelernt?
Lol Crawley: Es ist im Wesentlichen auch nur 35 Millimeter. Aber 35 Millimeter horizontal aufgenommen, wie bei einer Fotokamera. Es gibt oft ein kleines Missverständnis darüber und Verwirrung zwischen VistaVision und 70 Millimeter. 70 Millimeter ist das Projektionsformat fürs Kino. Wir haben in 35 Millimeter gedreht, aber es kommt darauf an, wie man das Negativ belichtet. Es handelt sich also immer noch um das gleiche Filmmaterial. In dieser Hinsicht ist die Belichtung und alles andere gleich. Man muss keine anderen Einschränkungen berücksichtigen. Allerdings ist die Kamera bei VistaVision nicht so ergonomisch wie andere Kameras. Allein die Tatsache, dass der Film horizontal durchläuft, bedeutet, dass das große Magazin eben rund vor einem liegt. Wenn es vertikal wäre, würde man es besser in der Hand halten können, sich auf die Schulter packen. In dieser Hinsicht ist es also eine Herausforderung. Es geht auch um die Optik und den so genannten Video Tap. Dadurch wird das analoge Bild zu einem digitalen Bild. So kann man tatsächlich sehen, was man tut. Das ist alles ein bisschen rudimentär, wissen Sie, und das macht es schwierig. Es ist für jeden schwer, auf dem Monitor wirklich etwas zu sehen.
Ok, verzeihen Sie mir. Aber das ist zu viel Technik für mich 😉
Lol Crawley: Man kann VistaVision einfach als ein kompositorisches Mittel bezeichnen. Es ist ein schönes Medium. Doch all diese Möglichkeiten, die VistaVision bietet, müssen ihre Berechtigung haben, müssen mit Sinn und Verstand eingesetzt werden. Sonst wird es nur zu einer Art Gimmick oder Effekthascherei. Es ist nicht für alles einsetzbar. Man muss wissen, wo man es einsetzt. Der Name sagt es ja schon. Es ist für Ausblicke, für Vista, gedacht. Der Marmorsteinbruch in Carrara, die Architektur des Gebäudes, das Lazlo baut, all das musste fotografiert werden, ohne dass es verzerrt wurde. Mit einem größeren Negativ hat man automatisch ein größeres Sichtfeld. Das bedeutet, ich konnte mit einem 35mm-Objektiv arbeiten, was ein gutes Objektiv ist, um nicht zu verzerren. VistaVision war also perfekt für diesen Film.
Nach allem, was man hört, ist und war „Der Brutalist“ eine Herzensangelegenheit. Sicherlich gab es auch schwierige Phasen, die gibt es fast bei jedem Projekt. Was hat Sie dazu gebracht, trotzdem durchzuhalten? Gab es jemals einen Punkt, vor oder während der Dreharbeiten, wo Sie dachten: Jetzt kommen wir nicht mehr weiter?
Lol Crawley: Naja, ich hatte gar keine andere Wahl. Und ich wollte es auch gar nicht anders. Mit Brady verbinden mich nun drei Filme. Er ist ein guter Freund. Und wenn ich mich auf etwas einlasse, gibt es keinen Weg zurück. Jemand hat mich neulich gefragt, ob ich erst das Drehbuch lese, bevor ich mich für ein Projekt entscheide, oder ob ich mich erst entscheide und dann das Drehbuch lese. Das ist eine wirklich interessante Frage. Bei Brady ist es definitiv so, dass ich mich erst committe und dann das Drehbuch lese. Wissen Sie, ich bin für ihn da. Ich bin einfach da. Ich bin zu 100 Prozent dabei. Er ist ein Filmemacher, der fantastische Filme hervorbringt, aber man ist auch gerne mit ihm zusammen, weil es einfach Spaß macht. Er ist einer meiner Lieblingsmenschen. Er hat diese Art von Großfamilie aufgebaut. Wir sind ein bisschen wie eine Zirkustruppe, die alle paar Jahre zusammenkommt und einen Film macht. Wir arbeiten unglaublich hart, haben aber auch eine Menge Spaß zusammen. Das ist toll.
Sie haben erwähnt, dass das Budget bei etwa zehn Millionen Dollar lag, also nicht viel für so ein monumentales Epos. Hat die finanzielle Frugalität Ihre Arbeit beeinträchtigt?
Lol Crawley: Sagen wir mal so: Es ist das Budget, das ich von Brady gewohnt bin. Der Unterschied hier war, dass wir am Ende quasi zwei Filme hatten. Ich wusste nicht unbedingt, dass er dreieinhalb Stunden lang werden würde. Es fühlte sich nicht so an. Wir hatten alle einen hohen Anspruch und viel Ehrgeiz. Brady ist immer sehr pragmatisch. Das Geheimnis, um im Zeit- und Budgetrahmen zu bleiben, lautet: eine gute Planung, eine gute Pre-Production. Gleichwohl sind wir weit davon entfernt, alles zu Shotlisten und zu Storyboarden. Wir arbeiten auch sehr intuitiv.
Sie teilen offenbar auch den gleichen Geschmack.
Lol Crawley: Absolut. Deshalb gibt es wenig Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen am Set. Es gibt auch kein überflüssig gefilmtes Material. Das, was man auf der Kinoleinwand sieht, ist so ziemlich genau das, was wir gedreht haben. Das ist sehr hilfreich. Sonst ist es wie bei den Ästen eines Baumes. Wenn man immer mehr Aufnahmen hinzufügt, werden es immer mehr Takes, und das Ganze wird exponenziell, und plötzlich ist der Tag vorbei. Wenn man sich hingegen vornimmt, eine Szene in nur einer oder zwei Einstellungen zu machen, kostet das natürlich Zeit. In „Der Brutalist“ gibt es sehr ehrgeizige Aufnahmen, und es gibt eine Menge Choreographie. Wenn es erst einmal läuft, ist das toll. Die Szene, in der Erzsébet Van Buren der Vergewaltigung beschuldigt, haben wir in nur einer Einstellung gedreht. Das ist eine fünfminütige Szene in einer Einstellung.
Jüngst wurden Sie von der British Society of Cinematographers ausgezeichnet. Und natürlich gelten Sie auch als Frontrunner bei den Oscars. Was bedeuten Ihnen Auszeichnungen und Anerkennungen wie diese?
Lol Crawley: Das bedeutet mir sehr viel. Es ist eine absolute Ehre. Wissen Sie, ich bin schon so lange Mitglied in der BSC – und ich bin stolz darauf, Mitglied zu sein. Aber das ist jetzt wirklich das erste Mal, dass ich so etwas erlebe. Es begann mit dem Silver Frog bei CamerImage. Es ist wirklich wunderbar, von seinen Kollegen anerkannt zu werden. Es ist aber insgesamt ein unglaublich starkes Jahr, was die Bildgestaltung im Kino angeht…
Und in Rotterdam, beim IFFR, werden Sie mit dem nächsten Preis geehrt, dem Robby Müller Award. Was verbinden Sie mit dem Werk Robby Müllers?
Lol Crawley: Leider habe ich Robby nie kennengelernt. Ich hätte es gerne getan, weil ich mir vorstelle, dass wir uns gut verstanden hätten. So wie mit anderen Kollegen, zum Beispiel Christopher Doyle, Robbie Ryan, Anthony Dod Mantle oder Ed Lachman. Auch mit Robby Müller wäre ich gerne was trinken gegangen. „Paris, Texas“ war ein sehr, sehr wichtiger Film für mich. Das ist er immer noch. Es ist einer meiner Lieblingsfilme. Auch die Filme, die er mit Jim Jarmusch gemacht hat, wie „Mystery Train“, oder „Repo Man“. Und natürlich „Breaking the Waves“. Der hat einen besonderen Stellenwert für mich.
Verraten Sie uns warum?
Lol Crawley: Ich lebte damals in Newcastle, habe gerade meinen Abschluss gemacht und sah „Breaking the Waves“. Das hat mich einfach umgehauen. Und der allererste Film, den ich drehte, war „Ballast“ von Lance Hammer. Ich bekam einen Anruf, und es hieß: Es wird auf 35 Millimeter bei natürlichem Licht mit Laiendarstellern in Mississippi gedreht. Es gab viele Überschneidungen mit der Ästhetik von „Breaking the Waves“. „Breaking the Waves“ hat eine so hervorragende Bildsprache. Es gab kein einziges Bild, bei dem man dachte: Oh, das hänge ich mir an die Wand. Es war nicht so. Anscheinend musste Robby auch eine Menge Kritik einstecken wegen der Art und Weise, wie er gedreht hat; es sah nicht besonders kunstfertig aus. „Breaking the Waves“ hatte auf alle Fälle einen unglaublichen Einfluss auf „Ballast“.
Und wollen Sie uns noch verraten, was Ihr liebster VistaVision-Film ist?
Lol Crawley: Die Arbeit, die Hitchcock mit VistaVision gemacht hat, vor allem „Vertigo“ und „North by Northwest“. „Der Brutalist“ ist in vielerlei Hinsicht wie ein Melodram der 1950er-Jahre. Es war eine Anleihe bei Hitchcock, und ich denke, es steht in der Tradition dieser Kinoepoche, in der man den Raum und das Subjekt fotografiert hat. Ich glaube, das ist der Grund, warum der Film sich so groß anfühlt. „Der Brutalist“ ist ganz schön unapologetisch. Es ist so, wie wenn du auf eine Party gehst, und ich habe den Raum im Blick, aber auch dich. Ich klebe nicht ständig nah an deinem Gesicht. Auch wenn es durchaus ein paar Szenen davon gibt. Aber die meiste Zeit hält sich die Kamera zurück. Ich liebe den Raum und ich lasse den Schauspielern den Raum, gebe ihnen den Raum, um damit zu arbeiten. Mit „Der Brutalist“ wollen wir die Tradition des Filmemachens ehren.
Das Gespräch führte Barbara Schuster.