Salzgeber bringt am 6. März Alain Guiraudies sehr empfehlenswerten neuen Film „Misericordia“ in die deutschen Kinos. Die faszinierend-hypnotische Mischung aus Thriller, Drama und Komödie war für acht Césars und fünf Lumiere Awards nominiert. Guiraudie rückt im Interview das Verlangen der Figuren in den Mittelpunkt.

Ihr Film ist auf den ersten Blick schwieriger in ein vorgefasstes Genre einzuordnen, was ihn auch so attraktiv macht. Protagonist Jérémie kehrt darin nach einigen Jahren wegen einer Beerdigung in das Heimatdorf zurück. Würden Sie „Misericordia“ zum Beispiel selbst als Komödie bezeichnen?
Alain Guiraudie: Ich persönlich sehe den Film als eine Art dramatische Komödie an. Er hat Komödien-Elemente, aber es gibt genauso viele tragische Momente. Wenn man am Ende aus dem Kino herauskommt, bin ich mir selbst nicht sicher, ob die Menschen das Ganze als Komödie oder Drama ansehen werden. Es ist keine Entscheidung, die ich, sondern die das Publikum zu treffen hat.
Sie zeigen, dass es sehr leicht sein kann, einen Menschen umzubringen.
Alain Guiraudie: In der Tat. Im Film gibt es einen Charakter, der einen Stein findet, mit dem er eine andere Person umbringt. Es ist kein Unfall. Mir ging es aber nicht darum, zu zeigen, dass es leicht ist, einen Menschen umzubringen. Ich wollte eine Figur erzählen, die man nicht kennt, die in diesem Dorf und in dieser Situation festsitzt und versucht herauszukommen.
Warum sind nahezu alle Ihre Figuren in „Misericordia“ sexuell so unbefriedigt und deswegen so spitz?
Alain Guiraudie: In meinen Augen begehrt der von Félix Kysyl gespielte Protagonist Jérémie nur eine Person. Natürlich gibt es einige Missverständnisse mit der Mutter des früheren Mitschülers. Aber auch der Priester in der Geschichte begehrt zum Beispiel nur eine andere Person.
„Ich wollte hier einen erotischen Film ohne Sexzenen machen.“
In Ihren Thrillern wie zum Beispiel „Der Fremde am See“ gab es immer viel Erotik. Warum findet sich das ebenso in „Misericordia“, wenn auch auf andere Weise wieder?
Alain Guiraudie: Ich wollte hier einen erotischen Film ohne Sexzenen machen. Es geht um das Verlangen der Figuren, über das wir sie auch kennenlernen. Das Verlangen wird aber nie durch Sex befriedigt. Früher waren insbesondere homosexuelle Sexszenen so wenig akzeptiert, dass man immer darum kämpfen musste. Für mich sind Kämpfe und Sex auch miteinander verbunden, weil sie auf die animalischen Instinkte der Menschen zurückgehen. In den Kämpfen zwischen dem Protagonisten Jérémie und seinem früheren Mitschüler Vincent gibt es enge Körperberührungen. Dort zeigt sich visuell auch die Erotik des Films.
In Ihren früheren Filmen war der Sex direkter.
Alain Guiraudie: Die Angelegenheit ist komplizierter. Am Anfang meiner Karriere waren diese Szenen nicht explizit. Erst bei „Le roi de l’évasion“ und „Der Fremde am See“ wurde der Sex sehr klar und explizit. Jetzt komme ich mehr zu dem zurück, wie ich einmal anfing, indem ich mich mehr auf das Verlangen der Figuren konzentriere.
Ihr Film hat viele Gemeinsamkeiten mit dem neuen François-Ozon-Film „When Fall Is Coming“: den Stadt-Land-Gegensatz, die Konflikte der Generationen, den Katholizismus in Form von Schuld und Vergebung. Sogar Pilze spielen in beiden Werken eine größere Rolle. Gibt es da einen Austausch mit den Kollegen oder betrachten Sie sich mehr als eigener Planet?
Alain Guiraudie: Nicht notwendigerweise. Ich habe zum Beispiel François Ozons neuen Film noch nicht gesehen. Aber wir sind Teil dieser Welt und die Resultate der Zeit, in der wir leben. Wir kommen nicht vom Mars und erfinden mit unseren Filmen auch nicht alles neu. Deswegen sehen Sie wahrscheinlich gewisse Ähnlichkeiten in unseren Werken.
„Vielleicht ist ‚Misericordia‘ das gegenteilige Negativ zu Pasolinis ‚Teorema‘.“
Gibt es dann vielleicht mehr eine Verbindung in die Filmgeschichte, etwa zu Pasolinis 1960er-Jahre-Film „Teorema – Geometrie der Liebe“, in dem auch ein mysteriöser Fremde in eine Familie kommt, von allen begehrt wird und so alles durcheinanderbringt?
Alain Guiraudie: Das Motiv des Fremden, der in eine Stadt kommt, gibt es in vielen Filmen. Tatsächlich fühle ich mich sehr weit entfernt von „Teorema“. Aber es ist witzig, weil dieser Bezug schon häufiger an mich herangetragen wurde. Deswegen habe ich mich auch selbst hinterfragt. Vielleicht ist „Misericordia“ das gegenteilige Negativ zu „Teorema“. Mein Protagonist hat mit niemandem Sex. In „Teorema“ wiederum hat der Charakter Sex mit jeder anderen Figur. Bei Pasolini gibt es auch keinen Mord und der Protagonist endet allein in den Bergen. Bei mir endet der Protagonist in einem Bett. Ich finde den Pasolini-Film sehr mathematisch. Das Verlangen wird dort zu einer Explosion in einer bourgeoisen Mittelklasse-Familie. Bei mir gibt es von Anfang an keine richtige Familie.
Kann uns das Kino dabei helfen, unser Verlangen besser zu verstehen?
Alain Guiraudie: Ich weiß nicht, ob das Kino wirklich helfen kann. Aber es ist interessant, verschiedene Beziehungen anderer Menschen zu sehen. Das hilft dabei, Grenzen des täglichen Lebens zu überschreiten. Aber um Verlangen besser verstehen zu können, sollten wir uns lieber der Psychoanalyse zuwenden.
Albert Serras Produktionsfirma Andergraun Films war Koproduzent bei „Misericordia“. Gab es einen kreativen Austausch?
Alain Guiraudie: Es war weniger eine kreative Zusammenarbeit. Ich habe Albert Serra bislang nur einmal in meinem Leben getroffen. Und da sprachen wir nicht über diesen Film. Bei „Misericordia“ war es eher eine Zusammenarbeit der Produzenten.
Ihr Film hat einen besonderen, sehr ruhigen und konzentrierten Look. Haben Sie sich mit Ihrer Kamerafrau vor dem Dreh spezielle Gemälde oder sonstige Inspirationen angeschaut?
Alain Guiraudie: Wir haben mit dem gearbeitet, was wir vor Ort vorgefunden haben. Ich habe mir mit Claire Mathon vorher nicht bestimmte Filme oder Gemälde angeschaut. Die Natur gehört zu den wichtigsten Inspirationsquellen, die es auf der Welt gibt. Gustave Flaubert sagte mal, das Schönste an der Natur ist nicht, wenn sie dich zum Weinen oder Lachen, sondern wenn sie dich zum Träumen bringt.
Das Interview führte Michael Müller