Obwohl er sich bereits mitten in der Auswahl seines nächsten Festival de Cannes befindet, fand Thiérry Fremaux die Zeit, nicht nur das 4. Red Sea Film Festival in Dschidda zu besuchen, sondern setzte sich auch zu einem ausführlichen öffentlichen Gespräch mit Red-Sea-Programmer Kaleem Aftab zusammen.
Am dritten Tag ist das 4. Red Sea Film Festival in vollem Gang, gestern eröffnete der erste Souk in den neuen Räumlichkeiten am Rande der Altstadt. Hier entwickelt sich nicht nur ein äußerst vitaler internationaler Markt, es gibt auch eine Fülle an Veranstaltungen für die Industrie. Besonders hochkarätig war ein Gespräch, das Red-Sea-Programmer Kaleem Aftab in einem gefüllten Saal mit dem künstlerischen Leiter des Festival de Cannes, Thierry Frémaux, führte.
Gleich auf die erste Frage, was einen guten Film ausmache, antwortete Frémaux mit einem Augenzwinkern: „Zunächst einmal kommt es darauf an, einen Geschmack zu entwickeln. Mein Glück ist es, dass ich einen guten Geschmack habe. Aber im Ernst: Man muss das Kino lieben und wissen, was gutes Kino ist. Aber das ist für mich als Festivalleiter nur ein Teil der Angelegenheit.“ Es gebe eine bestimmte Art von Film, die in Cannes gezeigt würde. „Das heißt, dass nicht jeder Film mein Favorit ist, aber er ist dennoch wichtig für das Festival, weil er etwas aussagt über das Kino von heute. Und das ist relevant für uns in Cannes. Ich denke, das gilt für jedes Festival: Man muss wissen, was für ein Festival man macht, und man muss entsprechend versuchen, das Programm zu gestalten.“
Entscheidend sei es, fand Frémaux mit einem Blick auf die eigene Kindheit und Jugend als Sohne eines filmvernarrten Vaters, den eigenen Geschmack zu entwickeln und Wissen anszusammeln: „In der Jugend ist jeder ein Filmliebhaber, jeder geht gerne ins Kino. Ein „Filmbuff“ wird man an dem Punkt, an dem man die Filme nicht mehr durch ihre Stars identifiziert, sondern durch ihre Regisseure. Es ist dann nicht mehr ein Film mit John Wayne, sondern ein Film von John Ford. Es ist dann nicht mehr ein Film mit Robert De Niro, es ist ein Film von Martin Scorsese. Das ist der Anfang. Und wenn man feststellt, dass man das Kino liebt, wird man feststellen, dass einen das Kino zurückliebt.“
1979 sei er selbst erstmals in Cannes gewesen, erinnerte sich Thierry Frémaux: „Das Jahr von „Apocalypse Now“. Aber ich war jung, hatte gerade meinen Führerschein gemacht und setzte mich ins Auto und machte mich auf den Weg. Geschlafen habe ich im Auto, geparkt an einer Tankstelle. Ich habe keinen einzigen Film gesehen, aber ich war da! Darum ging es mir. Ich habe es nie vergessen. Und genau so fühlt sich Cannes immer noch für mich an.“ Der Unterschied sei, dass er mittlerweile bezahlt werde, sagte der Festivalchef achselzuckend: „Aber ich habe immer noch den Eindruck, ein Volunteer zu sein. Ich lerne jeden Tag etwas Neues. Jeder Tag ist ein neuer Anfang. Wir haben gerade mit dem Auswahlprozess begonnen. Das ist Aufregung pur.“
Erklärend fuhr er fort: „Cannes ist nicht mein Festival, es ist euer Festival. Es ist kein französisches Festival, es ist ein Festival, das in Frankreich stattfindet. Es ist ein Weltfestival, ein Festival für die Welt des Kinos. Für uns geht es um die Filmemacher, um die Menschen, die die Filme gestalten. Deshalb nennen wir den Regisseur zuerst. Wenn es ein Debüt mit Brad Pitt in der Hauptrolle ist, werden wir dennoch den Regisseur nennen. Während wir sprechen, arbeiten die Filmemacher an den Filmen, die wir in fünf Minuten zeigen werden. Aber das Festival ist mehr als die Sélection officielle. Es ist auch ein Markt, in dem das Geschäft des Kinos getätigt wird. Es gibt auch den roten Teppich. Es gibt auch die Hotels und Restaurants – ganz wichtig! Es sind die ersten Tage des bevorstehenden Sommers. Und es kommt die gesamte Industrie zusammen. In den zwölf Tagen des Festivals vergisst man, wer man ist. Man ist in Cannes. Das ist alles, was zählt. Das ist alles, was ist.“
Frémaux ging auch auf die Filmpresse ein, die einen schwierigen Stand habe: „Die Presse ist wichtig. Die Legende von Cannes geht auf die Presse zurück, auf die Kritiker. Ohne sie gäbe es Cannes nicht, ganz gewiss nicht als der Ort, als der Cannes heute bekannt ist. Mein Herz schlägt für die Filmkritik. Aber man muss auch feststellen, dass sich die Rolle der Kritiker massiv verändert hat, ihre Bedeutung hat gelitten. Sie sind nicht mehr die Könige der Welt. Das ist aber der Grund, warum man sie unterstützen muss. Das ist unsere Aufgabe. Weil ihre Arbeit wichtig ist. Wer im Film mitreden will, muss Filmkritiken lesen. Daran hat sich in meinen Augen nichts geändert.“
Die Zeit sei indes der beste Kritiker, fand Frémaux: „Vielleicht ist der Film, der vor 20 Jahren belächelt wurde, heute ein Meisterwerk. Jeder Filmemacher will sein Bestes geben. Keiner will einen schlechten Film machen. Dem muss man mit Respekt begegnen. So ist das dann auch heute: Jeder Film, den ich für Cannes auswähle, ist mir gleich wichtig. Es ist ein schwieriger Abwägungsprozess.“ Als aktuelles Beispiel nannte Frémaux „The Substance“ von Coralie Fargeat: „Er wurde als Mitternachtsfilm bei uns eingereicht. Aber ich habe ihn angesehen und erkannt, dass da mehr drinsteckt. Es ist ein Body-Horrorfilm. Aber um ein guter Horrorfilm zu sein, muss er auch gut inszeniert sein. Die Produzenten wussten selbst nicht, was sie mit ihm machen sollten. Ich habe zu ihnen gesagt: Ich will ihn im Wettbewerb haben, er kann groß werden. Jetzt hat er fast 100 Millionen Dollar eingespielt. Warum? Weil ich guten Geschmack habe. Oder besser: Weil ich meinen Geschmack ausgebildet habe und einen Blick für solche Dinge habe. Das ist wichtig. Das ist die Aufgabe von Cannes.“
Als weiteres Beispiel für eine seiner Entdeckungen nannte Thierry Frémaux den Arthouse-Liebling Apichatpong Weerasethakul. Keiner hätte sich für den eigenwilligen thailändischen Filmemacher interessiert. Cannes habe ihm eine Chance gegeben, ein paar Jahre später gewann er die Goldene Palme. Man könne auf einem solchen Festival allerdings nicht nur radikale Filme zeigen. „Manchmal will man unterhalten werden, braucht etwas Leichtes“, meinte Frémaux. „Deshalb zeige ich auch ,Top Gun Maverick’. Entscheidend ist, dass es ein guter Film ist und der Regisseur eine Handschrift hat. Man muss jeden Film als das sehen, was er ist.“
Mit Blick auf die beiden anderen großen A-Festivals in Europa sagte Frémaux: „Historisch gesehen, ging es in Berlin immer mehr um den Osten, das Kino aus dem damaligen Ostblock. In Venedig liefen die großen asiatischen Filmemacher. Cannes hatte immer schon einen universelleren Ansatz, speziell aber seit den Neunzigerjahren und mit jedem Jahr immer mehr. Wenn man nun auf das Red Sea Film Festival nach Dschidda kommt, dann erwartet man das Beste aus der asiatischen und afrikanischen Welt.“ Es kämen immer mehr Europäer, weil das Festival immer wichtiger werde, stellte Frémaux fest und verwies auf das brandneue Festivalgelände mit einem eigenen Bau für den Markt: „Weil sich gute Geschäfte machen lassen, aber auch weil die Qualität der Screenings immer besser wird. Es wäre anmaßend von mir zu sagen, wie andere Leute ihre Arbeit zu machen haben. Ich komme hierher, um zuzusehen und zu lernen. Ich spüre, dass die Dinge hier in Bewegung sind, dass hier ein relevanter und wichtiger Ort entsteht und teilweise schon ist. Man muss einen Event erschaffen. Man muss sich der Welt öffnen, man muss einen Appetit erzeugen. Der rote Teppich ist wichtig, die Medien sind wichtig. Cannes ist es gelungen, ein Event für sich zu werden. Das ist der Rat, den ich geben kann.“
Als er aus dem Publikum gefragt wurde, warum das Kino nicht mehr das Ansehen genieße, wie in der Vergangenheit, wurde Thierry Frémaux leidenschaftlich: „Ich sehe das ganz anders! Es stimmt, dass das Kino aktuell einen Wandel durchmacht, aber ich habe den Eindruck, dass es so stark und vital ist wie schon lange nicht mehr. Wissen Sie, ich sehe auch ganz gerne Serien, wenn ich denn Zeit dafür habe. Aber man sieht sie sich an, und man weiß nicht, von wem sie gemacht wurden. Sie haben keine Handschrift. Steckt ja schon im Namen ,Serie‘. Im Kino geht es um Einzigartigkeit. Jeder Film ist ein singuläres Ereignis. Und nur im Kino entfaltet er seinen besonderen Reiz.“ Er verwies auf die mittlerweile drei Kino in Lyon, die er selbst betreibt: „Die Leute kommen vorbei, zahlen einen kleinen Eintritt und haben ein Erlebnis, das sie verändert. Das kann nur das Kino. Deshalb wird es überleben und immer wieder aufs Neue erblühen.“
Aus Dschidda berichtet Thomas Schultze.