Venedig swingt mit den tollen Showmelodien aus „Joker: Folie à Deux“. Während des Endspurts noch einmal auf die Pauke hauen und die Presse zur Vorführung schon um 8:15 Uhr einzubestellen… Auch das gehört zur Mostra 2024.
Thomas Schultze: Am Anfang, auf dem Papier, sieht jeder Film erst einmal gleich wichtig, gleich interessant aus. Natürlich entdeckt man persönliche Favoriten. Natürlich kann man sich ausmalen, welche Filme es sein werden, die für den größten Bohei auf dem roten Teppich sorgen werden. Aber wenn man erst einmal vor Ort ist und live miterlebt, wann und wo große Wellen gemacht werden, bei welchen Titeln sich die Schlangen vor den Pressevorführungen besonders schnell füllen, bei welchen Filmen die Pressekonferenzen besonders nachgefragt sind, wo am meisten Momentum herrscht, dann weiß man, um welche Filme es wirklich geht. Bevor dann am Samstagabend bei der Verleihung der Preise die Karten noch einmal ganz neu gemischt werden. Und klar, man würde als Filmfan ja unter einem besonders großen Stein leben müssen, wenn man nicht von Anfang schon gewusst hätte, dass „Joker: Folie à Deux“ das große Ticket sein würde. Wenn man es dann allerdings selbst miterlebt, wie zu einem Zeitpunkt der Mostra, an dem eigentlich schon langsam wieder die Gehsteige hochgeklappt werden, alles zu DIESEM EINEN FILM drängt, als handle es sich bei ihm um den Monolithen aus „2001“, dann hat das eine nicht unbeträchtliche Wirkung. Man ist dann tatsächlich ein bisschen aufgeregter und gespannter als sonst, wenn schließlich das Licht gelöscht wird, der beschwingte Venedig-Einspieler über die Leinwand läuft und dann das Logo von Warner Bros. erscheint – bei „Joker“ war es noch das Logo aus den frühen Siebzigern, diesmal das Logo von Warner Animation, weil „Folie à Deux“ tatsächlich mit einem Cartoon im Stil der Looney Tunes beginnt. Es war elektrisierend, oder, Barbara?
Barbara Schuster: Ich muss erst mal zurückspringen. Denn elektrisierend, aufgeregt und gespannt sein, wenn man seinen Platz im Sala Darsena eingenommen hat, sind Dinge, die mich in Venedig am meisten begeistern. Dieses ins Kinoströmen ist einmalig, phänomenal. Jetzt besuchen wir ja „nur“ Pressevorführungen und immer auch nur die im Sala Darsena, weil, wie ich mich von Dir belehren habe lassen: einfach bester Saal, beste Sitze, beste Sicht. OK, das stimmt. Auf jeden Fall sind Pressevorführungen in Venedig etwas Einmaliges. Man steht in der Schlange mit vielen bunten Vögeln aus aller Welt. Wir nutzen jede Minute, um in unsere Tastatur zu hauen, sitzen also meistens auf dem Boden in der Schlange und tippen. Wenn es losgeht mit dem Abscannen der Tickets, geht das Gerenne los. Denn wir sind nicht die Einzigen, die einen Stammplatz haben. Und wenn man den will, muss man schnell sein. Reihe acht, Sitze ?? und ?? (die genauen Nummern verraten wir nicht ☺️). Wir haben ja immer dieses Spielchen mit ein paar spanischen Kollegen, die dort eigentlich auch sitzen wollen… wer schafft es schneller… ich möchte uns dabei nicht gefilmt sehen. Irgendwie ganz schön albern 😊. Aber so sind wir. Auf alle Fälle ist es interessant, wenn sich Filme des Wettbewerbs außerhalb der „Blase“ herumsprechen. Weißt du noch, gestern, bei unserem Lieblingsrestaurant in Dorsoduro, wie uns der Kellner sagte, dass er gehört habe, dass der brasilianische Beitrag von Walter Salles so toll sei… Das finde ich ebenfalls elektrisierend…
Thomas Schultze: Kino lebt nun einmal. Auf Festivals besonders. Und in Venedig extra besonders. Und sorry fürs Mansplaining. Ich hoffe, ich bin lernfähig. Und nicht immer alle Geheimtipps verraten! Aber schon verrückt, dass wir jetzt schon wieder an dem Punkt sind, das Festival im Rückspiegel zu betrachten, das viele Gesehene einzuordnen und abzuhaken versuchen. Klar, die Mostra läuft noch drei Tage, zwei Tage gibt es noch neue Filme zu entdecken, über die ich dann schreiben kann. Aber der große Run ist vorbei, die großen Namen im Wettbewerb sind durch. Zum Schluss gibt es dann immerhin noch außer Konkurrenz Kevin Costners „Horizon 2“ – lustigerweise haben wir ihn gestern an besagtem Restaurant in Dorsoduro vorbeischlendern sehen. Aber wäre dann auch doof, ihn anzusprechen und ihn daran zu erinnern versuchen, dass man gerade erst vor ein paar Wochen auf den Filmtagen in Köln so nett mit ihm gesprochen hat. Ich freue mich auf den Film, habe den Eindruck, dass „Horizon 1“ eben genau dieses Problem hatte, all die verschiedenen Geschichten in Gang zu setzen. Hätte er eleganter lösen können. Also mal gucken… Große Geste jedenfalls von Alberto Barbera, ihn nachträglich noch eingeladen zu haben. Am Samstag werden Sie bei uns nachlesen können, wie wir den Film einschätzen.
Aus Venedig berichten Barbara Schuster & Thomas Schultze