Mit seinem vierten Locarno Film Festival, das am 7. August startet, als künstlerischer Leiter hat Giona A. Nazzaro eine große Selbstverständlichkeit bei der Auswahl der Filme gefunden. Im Interview mit SPOT spricht er über die Zusammenstellung des Programms und die Zusammenarbeit mit der neuen Festivalpräsidentin Maja Hoffmann.
Wenn Sie einen Blick auf Ihr Programm werfen, was fällt Ihnen dann auf?
Giona A. Nazzaro: Ich würde sagen, dass mir das Programm in diesem Jahr etwas runder gelungen ist, es ist organischer, die Filme und Reihen greifen besser ineinander, befinden sich im Gespräch miteinander. Vor zwei Jahren gab es auffallend große formelle Unterschiede. In diesem Jahr kann man selbst die Arbeiten der prominenten so genannten experimentellen Filmemacher wie Wang Bing auch als narrativ betrachten. Das ist mir wichtig. Natürlich habe ich kein Problem mit nicht-narrativem Kino, aber weil Locarno ein sehr starkes lokales Publikum hat, ist es mir wichtig, dass das Festival kein Fremdkörper ist, in der Region, dass es für ein großes Publikum zugänglich wirkt. Natürlich zeige ich anspruchsvolle Filme. Das will ich, und das werde ich tun. Aber ich will, dass das Gespräch über diese anspruchsvollen Filme organisch mit der Gemeinschaft des Ortes fließt. Ich will die Filme nicht einfach über Locarno stülpen – nach dem Motto: soll sie verstehen, wer sie verstehen kann, die anderen haben Pech gehabt. Das entspricht nicht meiner Vorstellung eines Festivals, das den Dialog sucht.
Gab es denn Kritik?
Giona A. Nazzaro: Nicht in dem Sinne, dass sie an mich herangetragen wurde. Es ist mehr eine Beobachtung, die sich selbst gemacht habe, als ich noch reiner Besucher des Festivals war – und der ich mich jetzt als künstlerischer Leiter natürlich stelle. Ich will nicht, dass der Eindruck entsteht, die Piazza Grande sei der Ort für die Unterhaltung und der Wettbewerb der Ort für unzugängliche Filme. Diese Trennung ist nicht gut, sie kommt einer Spaltung gleich. Das will ich unterbinden. Das Publikum soll sich in allen Sektionen in Locarno als Bestandteil des Gesprächs begreifen. Dabei darf jeder gut finden, was ihm oder ihr gefällt – und umgekehrt. Und man soll es auch äußern können und äußern. Es gibt nicht die eine richtige Haltung, die von einer kleinen Gruppe von vielleicht 15 oberschlauen Leuten verkörpert wird, die sich den anderen überlegen fühlen. Wenn ein anspruchsvoller Film nicht landet beim Publikum, heißt das nicht, dass er problematisch ist. Sondern dass wir als Programmer und Kuratoren und Leiter darüber reflektieren sollten…
„Die Ausgabe in diesem Jahr rückt noch näher heran an meine Vorstellung, was ein gutes Filmfestival leisten muss.“
Giona A. Nazzaro
Es geht darum zu überdenken, wie man das gewünschte Gespräch über die Filme auf die Beine stellt?
Giona A. Nazzaro: Die Ausgabe in diesem Jahr rückt noch näher heran an meine Vorstellung, was ein gutes Filmfestival leisten muss. Um das gesamte Publikum abzuholen, muss man die Auswahl nicht kommerzieller ausrichten, sondern man muss sie klüger gestalten. Selbst der radikalste Filmemacher hofft, dass seine Arbeit gesehen wird. Ich erinnere mich immer wieder daran, was mir Jean-Marie Straub, als er in Rom lebte, erzählt hat. Er sagte mir, dass es sein Wunschtraum wäre, dass ein Arbeiter am Ende seines Arbeitstags aus der Fabrik kommt und an einem Kino vorbeikommt, in dem einer meiner Filme läuft, dann soll er eine Eintrittskarte lösen können in dem Wissen, dass dieser Film auch für ihn gemacht ist. Das hat mich sehr gerührt.
Wenn Sie sagen, dass es Ihnen in diesem Jahr gelungen ist, ein runderes Festival zu gestalten, woran liegt das dann? Weil Sie das Festival mittlerweile besser kennen, weil Sie gezielt an den Stellschrauben gedreht haben, oder weil es sich durch das diesjährige Angebot aufgedrängt hat?
Giona A. Nazzaro: Ich habe einfach versucht, die verschiedenen Teile des Festivals anders zu gewichten. Ich habe im internationalen Wettbewerb Titel, die man ohne Weiteres auch auf der Piazza Grande vor dem ganz großen Publikum hätte zeigen können. Für mich ist es wichtig, dass man den Produzenten, Regisseuren und Verkäufern etwas anderes mitteilt: Der Wettbewerb von Locarno steht nicht für antikommerzielle Filme, er ist eine offene Anordnung. In den letzten zehn Jahren hat es eine erkennbare Bewegung gegeben, die auch dem narrativen Kino im Wettbewerb einen zunehmend wichtigen Stellenwert beimessen kann. Wenn man die Line-ups der Kolleg:innen der anderen Festivals betrachtet, dann würde ich sagen, dass die anderen Festivals ein bisschen mehr Locarno geworden sind in dem Sinne der Auswahl von Titeln aus der ganzen Welt. Filmemacher:innen oder Produzent:innen, die von Locarno entdeckt wurden, finden sich nun auch in den anderen Festivals. Für mich ist es interessant, dass Locarno, wo es trotz einer sehr starken Anbindung an die Industry – siehe Locarno Pro – keinen eigenen Markt gibt, zum Erfolg einzelner Titel, aber eben auch der vorgestellten Filmemacher:innen einen starken Beitrag leistet.
Es ist das vierte Locarno Film Festival unter Ihrer Leitung. Wenn Sie auf Ihre eigene Entwicklung blicken, sehen Sie Ihre Vision des Festivals mittlerweile umgesetzt?
Giona A. Nazzaro: Das Locarno Film Festival existiert seit 77 Jahren. Es hat seine eigene Identität, seine eigene Handschrift. Ein Festivalleiter kann nur innerhalb der Parameter, die von dem Festival vorgegeben werden, agieren. Das Festival ist größer als sein künstlerischer Leiter. Ich stehe im Dienst des Festivals und trage meinen Anteil an seinem Gelingen bei. Dieses Jahr kann man sehr gut sehen, was mich als Kurator interessiert. Wir haben eine umfassende Retrospektive über die Filme von Columbia Pictures, eine Auswahl, die die Jahre 1929 bis 1959 abdeckt. Ebenso haben wir eine Hommage an Stan Brakhage. Genre taucht immer wieder auf, im Hauptwettbewerb ebenso wie außerhalb des Wettbewerbs. Es ist wohl so, dass ich Autorenkino aus einer anderen Perspektive betrachte, anders interpretiere. Ein sehr interessanter Autor ist für mich beispielsweise Ala Eddine Slim, dessen „Agora“ im Wettbewerb aufgeführt wird. Für mich ist spannend was im Kino im Nahen Osten passiert. Ich schätze das türkische Kino, habe aber meine Probleme mit dem vorherrschenden Naturalismus. Deshalb haben wir im Wettbewerb den neuen Film von Gürcan Keltek, der alles ist außer naturalistisch. Ganz bewusst habe ich versucht, Abstand zu nehmen von dem europäischen Blick, der besonders in nicht-europäischen Produktionen, zum Beispiel aus Asien, auftaucht. Die Filmemacher aus dem Nahen Osten haben uns sehr geholfen. Sie erzählen ihre eigenen Geschichten, ringen auf ihre Weise mit ihren eigenen Widersprüchen, und das auf eine höchst eigene und originelle Weise. Sie fordern uns zu der Art von Gespräch heraus, die mir vorschwebt. Wir müssen erst einmal zuhören und versuchen zu verstehen, was sie uns sagen, anstatt gleich eine eigene Meinung zu haben.
Aber ist eine Kuratierung nicht immer auch der Ausdruck des eigenen Geschmacks?
Giona A. Nazzaro: Wenn man kuratiert, kann Geschmack auch problematisch sein. Der eigene Geschmack deutet immer auch die Grenzen der eigenen Weltanschauung an. Ich versuche bewusst, über meine eigenen Grenzen hinauszugehen. Ein Beispiel: Ich habe im Wettbewerb ein Erstlingswerk, einen Dokumentarfilm über den Bürgerkrieg in Libanon. Wir haben lange darüber gesprochen, uns intensiv damit auseinandergesetzt. Und ich habe mir gedacht: Jetzt ist vielleicht der Moment, an dem man einen anderen Blick auf diesen ungeheuer langanhaltenden Bürgerkrieg werfen muss, obwohl man in den letzten 20 Jahren viele verschiedene Narrative gesehen hat, wie man sich diesem Thema nähern kann. Es geht nicht nur vorwärts in Gebiete, die man nicht kennt. Manchmal hilft es auch, den Blick zu vereinfachen. Und damit meine ich nicht, einen dümmeren Blick zu werfen, sondern unvoreingenommener und offener zu sein.
„Der eigene Geschmack deutet immer auch die Grenzen der eigenen Weltanschauung an. Ich versuche bewusst, über meine eigenen Grenzen hinauszugehen.“
Giona A. Nazzaro
Haben Sie die Filme bekommen, die Sie haben wollten?
Giona A. Nazzaro: Das habe ich. Nur ganz am Schluss gab es einen Film, der dann doch einen anderen Weg für sich entschieden hat. Wir haben für diese Ausgabe aber auch ganz anders gearbeitet. Gleich mit Ende der letztjährigen Edition haben wir mit der Arbeit an dem diesjährigen Locarno Film Festival begonnen. Schon im letzten Oktober haben wir angefangen, die Leute ganz gezielt anzusprechen. Auf diese Weise hat das Programm schon zu einer sehr frühen Zeit angefangen, Form anzunehmen. In der heißen Phase, wo sich gewöhnlich die Hälfte des Programms erst konsolidiert, hatten wir nur noch sehr wenige Slots offen. Wir haben die Auswahl Film um Film erweitert. Wir hatten auf diese Weise das Privileg, immer wieder innehalten und für uns überprüfen zu können, wo wir uns befinden. Gegen Ende hin wussten wir also sehr genau, was uns noch fehlt und was wir nicht wiederholen wollten, und wir konnten entsprechend agieren.
Wollen Sie diese Vorgehensweise fortsetzen?
Giona A. Nazzaro: Wenn es möglich wäre, wäre das fantastisch. Ich habe diesen Vorgang sehr genossen. Der erste Film, den wir ausgewählt haben, war „Der Spatz im Kamin“ von Ramon Zürcher, von dem wir verzaubert waren. Er hat die Latte sehr hoch gelegt, so dass uns klar war, dass wir uns daran würden messen müssen. Dieser erste Film war eine Art Leuchtturm für uns.
Das Locarno Film Festival findet in diesem Jahr erstmals mit Maja Hoffmann als neuer Präsidentin statt. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?
Giona A. Nazzaro: Sie unterscheidet sich nicht grundlegend von der Zusammenarbeit mit Marco Solari, der mich 2021 auf diesen Posten geholt hat. Er hat mir stets freie Hand in meinem Aufgabenbereich gelassen. Und auch Frau Hoffmann gewährt mir die Unabhängigkeit, die ich benötige, um meine Arbeit bestmöglich machen zu können. Sie war natürlich interessiert und befürwortet den Dialog. Immer wieder hat sie mich wissen lassen, wie glücklich sie über diesen oder jenen Film ist. Entsprechend war sie mit uns enttäuscht, wenn auf der Piazza nicht alles gleich wunschgemäß geklappt hat. Aber sie war immer Bestandteil des Gesprächs, wir wussten immer, dass sie uns unterstützt und Anteil nimmt an unseren Entscheidungen. Es ist sehr locker gewesen. Tatsächlich möchte ich unterstreichen, dass es auch Frau Hoffmann zu verdanken ist, dass wir in diesem Jahr ein bisschen an den Stellschrauben drehen und ein paar Dinge etwas anders machen konnten. Ich begrüße das sehr. Und freue mich auf das 77. Locarno Film Festival.
Das Gespräch führten Barbara Schuster und Thomas Schultze.