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CineMerit Award für Kate Winslet: Nimm das, Hollywood!

Sie spielte im lange Jahre erfolgreichsten Film aller Zeiten die weibliche Hauptrolle, sie gewann einen Oscar für „Der Vorleser“. Nur eines gab es nie bei CineMerit-Award-Gewinnerin Kate Winslet: Sie hat sich nie angebiedert, sie hat sich nie ausverkauft. Eine Würdigung.

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Kate Winslet in „Die Fotografin“ als Lee Miller (Foto: Studiocanal)

Seit dreißig Jahren spielt Kate Winslet sperrige, komplizierte, verunsicherte, mitunter unsympathische Frauenfiguren. Sie hat sich auf keine Stereotypen eingelassen, nie die Erwartungen erfüllt, die ein gewisser Bekanntheitsgrad mit sich bringt, was viel Durchhaltevermögen und eine vielleicht angeborene Furchtlosigkeit erfordert. Aufgewachsen in einer Theaterfamilie in der englischen Stadt Reading, war sie als Elfjährige erst in einem Werbespot auf dem Bildschirm zu sehen, anschließend in verschiedenen TV-Produktionen, bevor sie mit 17 in Peter Jacksons Coming-of-Age-Schocker „Heavenly Creatures“ mit einschüchternd erwachsener Ernsthaftigkeit in die Rolle der Juliet Hulme schlüpfte, die die Mutter ihrer Freundin tötet. Kurz darauf erhielt sie ihre erste Oscar-Nominierung für die liebeskranke Marianne Dashwood in Ang Lees „Sinn und Sinnlichkeit“, die zweite folgte zwei Jahre danach als rebellische Romantikerin Rose DeWitt Bukater in James Camerons Mega-Blockbuster „Titanic“, der sie auf direktem Weg in die Oberliga Hollywoods beförderte.

Dort angekommen, trotzte sie allen Regeln des Filmgeschäfts, und eine Zeit lang schien es, als würde man sie dafür bestrafen, dass sie sich lieber anspruchsvollen, manchmal erfolglosen Stoffen zuwendete statt kommerziellem Spektakel. Jahr für Jahr landete ihr Name auf der Liste der Academy-Award-Anwärterinnen, sie scheute kein Risiko, keine Nacktszene, keine noch so schrille Haarfarbe, brillierte als Schriftstellerin „Iris“ Murdoch, als Clementine Kruczynski in Michel Gondrys unvergesslicher Liebesgeschichte „Vergiss‘ mein nicht“, und als aufsässige Vorstadtmutter in „Little Children“. Doch „es brauchte erst einen Film über den Holocaust“, wie sie später in einer Folge von Ricky Gervais’Sitcom „Extras“ witzelte, um 2009, endlich, den Oscar in den Händen zu halten – für ihre emotionale Gratwanderung in der Bestselleradaption „Der Vorleser“.

Auch in dieser Rolle zeigt sich Kate Winslet so ungeschminkt und freizügig wie kein anderer A-Liga-Star. Sie enthüllt die Menschlichkeit ihrer Figuren, indem sie sie vollständig – auszieht. Es ist ungeheuer mutig, sich auf diese Weise angreifbar zu machen und auszutesten, wie es sich wohl anfühlt, vor allen Augen bloßgestellt zu werden, um ihren Charakteren genau diese Wahrhaftigkeit und gelebte Erfahrung zu geben, Method Acting durch (Seelen-)Striptease.Gleichzeitig hilft es ihr dabei, den Befreiungsdrang dieser Frauen zu zeigen, die versuchen, aus der Enge einer Ehe, ihrem Mittelklasse-Dasein oder eben aus gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen, wie in Sam Mendes‘ Melodram „Zeiten in Aufruhr“, in Jason Reitmans „Labor Day“, im Kostümfilm „Ammonite“, in der HBO-Serie „Mildred Pierce“. Oft wirken ihre Rebellinnen selbst mit Küchenscherze anziehend, manchmal machen sie es einem schwer, sie zu mögen, wie in „Mare of Easttown“: In der Krimiserie verkörpert sie eine alleinerziehende Polizistin, die den Mord an einem jungen Mädchen aufklären und gleichzeitig eine Tragödie in ihrer Familie verarbeiten muss, mit strähnigen Haaren, hinkendem Fuß, hängenden Schultern, permanenter Erschöpfung und immer wieder diesem durchdringenden Kate-Winslet-Blick, bei dem sie eine Augenbraue erstaunt hochzieht und die andere zweiflerisch zusammenkneift, und der einem das Gefühl gibt, dass nichts in dieser Welt in Ordnung ist.

In der letzten Zeit hat sich die 48-Jährige noch stärker für politische und soziale Themen engagiert. Erstmals stand sie gemeinsam mit ihrer Tochter Mia Threapleton für das TV-Drama „I Am Ruth“ vor der Kamera, das sich mit Hate Speech im Internet auseinandersetzt. Acht Jahre lang arbeitete sie als Produzentin an dem aufrüttelnden Biopic „Die Fotografin“, in dem sie auch die Hauptrolle der Kriegsfotografin Lee Miller übernahm, wieder eine Frau, die sich über Konventionen hinwegsetzte und sich neu erfunden hat, vielleicht der wichtigste Film ihrer Karriere, der ihr – nicht nur aufgrund der Thematik – mindestens eine Oscar-Nominierung einbringen muss. Unmittelbar nach den Dreharbeiten wagte sie sich an die zynische Satire „The Regime“ über die neurotische Diktatorin eines mitteleuropäischen Landes. Jeder Ton, jede Note, die sie dabei anschlägt, ist daneben und verkehrt. Die Serie ist wie eine Selbstparodie, mit der Kate Winslet ihre Working-Class-Credibility und Bodenständigkeit, ihren Eigensinn, den Kampf gegen Schönheitsideale und ihr bewiesenes Gesangstalent durch den Kakao zieht, eben das, wofür sie immer wieder angegriffen wurde, und sie ist dabei so ernsthaft komisch, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Auch, weil man sich ein bisschen dabei ertappt fühlt, dass man ihr vielleicht nicht alles zugetraut hätte. Nimm das, Hollywood.

Corinna Götz