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REVIEW FILMFEST HAMBURG: „Vena“

Sehr starkes Regiedebüt von Chiara Fleischhacker, die mit ihrem Abschlussfilm von der Filmakademie Baden-Württemberg die Geschichte einer jungen Frau aus prekären Verhältnissen, die hochschwanger eine Gefängnisstrafe antreten muss. 

CREDITS: 
Land/Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 115 Minuten; Drehbuch: Chiara Fleischhacker; Regie: Chiara Fleischhacker; Besetzung: Emma Nova, Friederike Becht, Paul Wollin, Barbara Philipp, Edith Stehfest; Verleih: Weltkino; Start: 28. November 2024

Vena
Emma Nova in „Vena“ (Credit: Neue Bioskop-Film/Lisa Jilg)

REVIEW:
„Dein Körper ist ein Chemielabor und keine Naturweide“, stellt die Frauenärztin in einer Szene fest, und auch alles andere spricht laut und grell dagegen, dass die Protagonistin von Chiara Fleischhackers Debütfilm ein Kind zur Welt bringen sollte – der Aschenbecher, den sie beim Rauchen auf den Bauch stellt, die künstlichen Nägel, Wimpern, Extensions, die Partyfreunde, der Vater des Babys, der ebenso abhängig ist von Crystal Meth wie sie selbst. Jenny (Emma Nova) wird ungeplant zum zweiten Mal Mutter, ihr sechsjähriger Sohn Lukas wächst bei der Oma (Barbara Philipp) auf, und wenn ihr Freund Bolle (Paul Wollin) als Maler auf einer Bausteller arbeitet, ist sie mit ihrer Sucht allein in der Plattenbauwohnung, verteilt pinkfarbenen Glitzerstaub auf Orchideen oder auf den Geschenken, die sie für Lukas bastelt. Ansonsten ist nichts in ihrem Leben rosarot: Wegen eines früheren Vergehens steht ihr eine Gefängnisstrafe bevor, in der Hoffnung auf einen Platz in einer Mutter-Kind-Einrichtung will sie diese vorzeitig antreten. Bis dahin verlangt das Jugendamt, dass sie die Hilfe der Familienhebamme Marla (Friederike Becht) annimmt, doch da ihr schon einmal ein Kind weggenommen wurde, misstraut Jenny den Behörden, auf deren Unterstützung sie eigentlich angewiesen ist. Wider Erwarten gelingt es Marla, die ihr gar nicht so unähnlich ist, Jennys Vertrauen zu gewinnen, ihr zu zeigen, dass man trotz seiner Fehler lieben und geliebt werden kann und einen Weg aus der Abhängigkeit. Aber auch Marla kann nicht verhindern, dass Jenny im Gefängnis möglicherweise buchstäblich von ihrem Baby entbunden wird.

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„Vena“ (Credit: Neue Bioskop Film/Lisa Jilg)

Chiara Fleischhacker, die mit „Vena“ ihren Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg vorlegt, drehte während ihres Studiums bereits mehrere ausgezeichnete Dokumentarfilme, auch ihr Spielfilmdebüt besitzt eine dokumentarische Authentizität. Dazu gehört, dass man über ihre Hauptfigur nur so viel erfährt, wie diese von sich preiszugeben bereit ist, nur das, was die einfühlsame Kameraarbeit von Lisa Jilg offenbart, die Jenny in keiner Szene aus den Augen lässt. Dass man der widersprüchlichen jungen Frau, die sich in ihrer trotzigen Verschlossenheit oft selbst wie ein Kind verhält, trotz der Leerstellen in ihrer Geschichte im Laufe des Films dennoch näherkommt, liegt zum einen an der großartigen und furchtlosen Hauptdarstellerin, zum anderen an dem akribisch recherchierten und präzisen Drehbuch. Die Filmemacherin begegnet ihren Charakteren mit Respekt und Zuneigung, gibt Jenny die Möglichkeit, sich zu verändern und dem Zuschauer die Chance, sich mit ihr zu identifizieren, sie trotz allem als Mutter zu sehen, die sich nach Verbundenheit mit ihrem Baby sehnt – und mit ihrem Partner, obwohl dieser keinen Entzugsversuch durchhält. Dabei ist Jennys glaubwürdige Wandlung, die auch mithilfe von Make-up und Kostüm nachvollziehbar wird, gleichzeitig ein Aufbegehren gegen ihre Verurteilung durch Außenstehende.

„Vena“ bricht mit Erwartungshaltungen und mit Stereotypen und hinterfragt den Umgang der Staatsgewalt mit schwangeren Frauen, die aufgrund einer Suchtgeschichte ins Gefängnis müssen, zeigt Risse im gesellschaftlichen System, verzichtet aber auf Schuldzuweisungen. Chiara Fleischhackers Film ist empathisch, menschlich und immer wahrhaftig, was konsequent auf eine Szene im Kreißsaal hinausläuft, für die tatsächlich eine echte Geburt gefilmt wurde, inklusive Nahaufnahmen von Plazenta und Nabelschnur, eben der Vena umbilicalis. Das ist das Gegenteil von dem, was man üblicherweise auf der Leinwand oder dem Bildschirm sieht, wo Frauen in dieser Situation vollkommen ihren Schmerzen ausgeliefert sind. Hier ist es ein Moment der Selbstbestimmung und Stärke – und eines der radikalen Bilder dieses Films, die man nicht so schnell vergisst. 

Corinna Götz