Wir haben es geschafft: Die Halbzeitmarke des 78. Festival de Cannes ist überschritten. Ein guter Anlass für eine Zwischenbilanz und schon einmal erste Palmenüberlegungen.
Wenn nach der Hälfte der langen Wettbewerbsstrecke in Cannes immer noch der erste gezeigte Film im Palmenrennen ganz oben steht in der persönlichen Bewertung, ist es entweder nur ein durchwachsener Jahrgang oder aber besagter Film ist wirklich so gut, liegt die Latte so hoch, dass man nur ganz schwer daran heranreichen mag. Nun habe ich nicht den Eindruck, dass es ein schwacher oder vielleicht nur durchwachsener Wettbewerb wäre. Vielleicht braucht es jetzt mal wieder einen Film, der richtige Wucht entfaltet, Druck entwickelt, aber beschweren kann man sich beileibe nicht über einen Mangel an Qualität auf dem 78. Festival de Cannes. Dass dieser erste Film im Wettbewerb, von dem ich spreche, Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“ (hier unsere SPOT-Besprechung) ist, ist natürlich ein großes Glück, Anlass zur Freude im deutschen Camp: Nachdem der davor letzte deutsche Film im Wettbewerb, Wim Wenders’ „Perfect Days“, sich 2023 bei den Jury-Entscheidungen den Darstellerpreis für Kōji Yakusho gesichert hatte, ist es aktuell nicht unwahrscheinlich, dass „In die Sonne schauen“ zu womöglich noch höheren Weihen kommen könnte. Aber Achtung: Nur weil die Kritik begeistert ist und die Stimmung allgemein für einen Film spricht, heißt das noch lange nicht, dass die Jury das ebenso sieht. „Toni Erdmann“ von Maren Ade hatte 2016 im Kritikerspiegel von Screen International den damals höchsten Schnitt überhaupt (3,6), blieb dann aber bei den Preisen unbeachtet, weil der damalige Jurypräsident George Marshall entschieden gegen den Film Lobbyarbeit geleistet hatte.
Und „In die Sonne schauen“ ist auch nicht allein. Nur einen Tag danach hatte „Sirât“ (hier unsere SPOT-Besprechung) von Oliver Laxe das Publikum zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Die wilde Odyssee eines Trupps von Techno-Nomaden durch die unwegsame Landschaft von Marokko ist aktuell tatsächlich auch mein persönlicher Favorit – Kopf an Kopf mit „In die Sonne schauen“. Deutsche Koproduktionspartner sind das ZDFund The Match Factory. Enthusiastische Fürsprecher hat übrigens auch „Die jüngste Tochter“ (hier unsere SPOT-Besprechung), der französische Beitrag von Hafsia Herzi, der von deutscher Seite von Katuh Studiounterstützt wird. Die Geschichte einer jungen Muslima aus den Banlieues, die für sich lernen muss, ihre Homosexualität zu akzeptieren, und sich damit in einen kaum zu lösenden Glaubenskonflikt gestürzt wird, ist mit einer solchen Feinheit und auch visuellen Klarheit erzählt, dass zumindest ich mich ihr nicht entziehen konnte. Und dann kommt als zusätzliches Highlight noch Richard Linklaters „Nouvelle Vague“ (hier unsere SPOT-Besprechung) dazu, der seine Nachstellung der Dreharbeiten zu Godards „Außer Atem“ liebevoll und überschwänglich wie einen Film aus dem Jahr 1959 aussehen lässt, mit Kniffen und Tricks erzählt, als wäre es selbst eine Arbeit aus der Blütezeit der französischen Neuen Welle. Mit mehr Lust kann man nicht übers Kino erzählen, mehr Lust aufs Kino kann man nicht machen.
Die anderen Amerikaner waren allesamt sehenswert: „Der phönizische Meisterstreich“ (hier unsere SPOT-Besprechung) ist Wes Anderson in beschwingter Fabulierlaune, ein Spaß, der köstlicher kaum ausgestattet und umgesetzt sein könnte. Ari Aster hat die Traute, mit „Eddington“ (hier unsere SPOT-Besprechung) den ersten großen Film abzuliefern, der sich ernsthaft mit der Covid-Pandemie auseinandersetzt, dabei aber nicht gerade die positiven Seiten des Amerikas von heute zu Tage fördert. Auch Lynne Ramsay agiert bei „Die, My Love“ (hier unsere SPOT-Besprechung) am oberen Ende ihres filmischen Könnens. Ich respektiere den Film, weiß das Umgesetzte zu schätzen. Wirklich gefallen hat er mir nicht. Zu keinem Zeitpunkt findet diese Studie einer Frau weit über dem Rand eines Nervenzusammenbruchs ihren Rhythmus, Jennifer Lawrence spielt immer so, als könnte man noch den Ruf „Und Action!“ leise nachhallen hören. Der Film wird es ertragen können, dass ich ihn nicht so gut fand, wie ich es mir erhofft hatte: Es hat den bisher höchstdotierten Deal des Festivals vorzuweisen: Mubi sicherte sich die Rechte für üppige 24 Millionen Dollar. Viel besser gelungen ist „The Secret Agent“ (hier unsere SPOT-Besprechung) von Kleber Mendonça Filho, ein Politthriller aus der schwülen Hitze von Recife im Jahr 1977, wo Polizei und Auftragskiller gemeinsame Sache machen beim Beseitigen unliebsamer Oppositioneller. Sehr stark ist auch „Dossier 137“ (die Review bin ich Ihnen noch schuldig!) von Dominik Moll, ein resignierter und wütender Policier über eine Ermittlung am Rand eines Gelbwesten-Protests. Und auch das will zugegeben sein: Aus terminlichen Gründen blieben „Zwei Staatsanwälte“ von Sergei Loznitsa und „Renoir“ von Chie Hayakawa leider ungesehen. Zu wenig Zeit, zu viel Cannes. Tut mir leid, ich habe es nicht geschafft, schreibe hier aber gerne, dass Loznitsas mit der deutschen Looksfilm realisierte Romanadaption den Kritikerspiegel von Screen International mit einer Bewertung von 3,1 gegenwärtig anführt.
Wie würde ich entscheiden, wenn ich zum jetzigen Zeitpunkt die Palmen vergeben müsste? Die beiden Hauptpreise (Goldene Palme / Großer Preis der Jury) gingen dann an „In die Sonne schauen“ und „Sirât“; für die beste Regie würde ich Richard Linklater wählen. Beste Hauptdarstellerin ist die umwerfende Nadia Mellitiaus „Die jüngste Tochter“ (oder Léa Drucker aus „Dossier 137“ – ganz stark!), als besten Hauptdarsteller sehe ich aktuell Joaquin Phoenix in „Eddington“, keine originelle Wahl, aber ich fand ihn absolut überzeugend in einer schwierigen Rolle. Der Spezialpreis müsste demnach an „The Secret Agent“ gehen.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass auch die beiden anderen großen deutschen Filme im diesjährigen Cannes-Line-up durchwegs erfreuliche Angelegenheiten sind: „Amrum“ (hier unsere SPOT-Besprechung) von Fatih Akin besticht mit seiner betörenden Einfachheit, aus der sich ein sehr tiefes Porträt einer Kindheit am Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt, und Christian Petzold hat mir sehr gut gefallen mit seinem Abschluss seiner Naturgeister-Trilogie, „Miroirs no 3“ (hier unsere SPOT-Besprechung). Viel gesprochen wurde im Vorfeld über die drei Regiedebüts von bekannten Schauspielstars, die Thierry Frémaux in die Nebenreihe Un Certain Regard eingeladen hat, „The Chronology of Water“ von Kristen Stewart, „Urchin“ von Harris Dickinson und „Eleanor the Great“ von Scarlett Johansson. Letzterer wird erst noch gezeigt, aber über Dicksinsons Film über einen jungen auf der Straße lebenden Mann in England, der sich müht, wieder Fuß zu fassen in der Gesellschaft, kann man sagen, dass es ein sehr gelungener Einstand auf dem Regiestuhl ist, ein atmosphärisch dichtes, visuell klares Statement. Was sich über Kristen Stewarts Film leider nicht sagen lässt, der sich so sehr in seiner aufgesetzten Punk-Attitüde gefällt, dass leider die Geschichte und starke Darstellung von Imogen Poots nicht ausreichend unterstützt werden.
Der meistgehörte Satz in diesem Jahr: „Ich habe kein Ticket bekommen.“ Es bedarf schon einer besonderen Form von cineastischem Masochismus, sich dem Wahnsinn des Ticketsystems in Cannes zu unterwerfen. Dabei kann man sich diesmal nicht beschweren, das Vorbestellsystem liefe nicht reibungslos. Aber man muss sensationell schnell sein, um an Einlasskarten zu kommen: Vier Tage vor dem jeweiligen Festivaltag kann man Tickets buchen, pünktlich ab 7 Uhr morgens. Wer auch nur eine Minute zu spät kommt, der sieht sich mit ausverkauften Sälen konfrontiert. Einmal ließ mich meine eiserne Disziplin im Stich – und ich musste miterleben, wie das ist, wenn man um 7 Uhr 04 ins Netz geht und ALLES sold out ist. Es ist frustrierend und erniedrigend: Der Besuch eines Festivals darf keine olympische Sportdisziplin sein, sondern sollte eine Feier des Kinos ohne unnötigen Extrastress sein. 16 Stunden am Tag ON zu sein, das reicht völlig (und macht allemal glücklich!).
Aus Cannes berichtet Thomas Schultze.
Und hier das persönliche Ranking…
Durch die Decke und ab dafür
Sirât
In die Sonne schauen
Durch die Decke
Die jüngste Tochter
Nouvelle Vague
Obere Stockwerke
Amrum
Dossier 137
The Secret Agent
Miroirs no 3
Der phönizische Meisterstreich
Fahrstuhl nach oben
Eddington
Urchin
Partir un jour
Erdgeschoss
Die, My Love
Mission: Impossible – The Final Reckoning
The Richest Woman in the World
Dalloway
Keller
The Chronology of Water