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Cannes-Bilanz: We Are the World (Not the USA)


Die Jury hatte Lust auf Message. Und feierte gleichzeitig die große Filmkunst. Wovon auch Mascha Schilinski und ihr „In die Sonne schauen“ profitierten, die Historisches schrieben beim 78. Festival de Cannes. „Die Kunst wird immer siegen“, erklärte die Jurypräsidentin nach der Verleihung der Palmen. Wir werfen einen Blick auf die Gewinner und den Jahrgang 2025.

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Jafar Panahi, Gewinner der Goldenen Palme für „Un simple accident“ (Credit: Imago / Abacapress)

Ganz am Ende, da steuerte alles auf einen Zweikampf der Favoriten zu. Wobei „Zweikampf“ ein viel zu martialisches Wort ist und auch ganz und gar nicht der Botschaft entspricht, die Juliette Binoche und ihre hochkarätige Jury sich auf die Fahnen geschrieben hatten: Sie wollten die Kunst feiern, sahen das aber nur als möglich in einer Zeit, in der die Freiheit der Kunst in Gefahr ist, indem sie Filme ehren, die sich mit den Grundwerten des Menschseins befassen, denen es um Empathie geht, um Solidarität, um Vergebung, um einen Weg, einander auf Augenhöhe zu begegnen und in denen es möglich ist, Verständnis füreinander zu entwickeln. Insofern ist es Makulatur, sich darüber zu streiten, ob der eine vielleicht der feinere und kunstvollere Film als der andere gewesen sein mag. Die Preisvergabe ist ein Statement aus einem Guss, und man kann sie in allen einzelnen Preisen nachvollziehen (auch wenn man selbst anders entschieden hätte) und muss sie in ihrer Gesamtheit unbedingt beklatschen. 

In den Filmolymp

Gold für Jafar Panahi. Das rückt den iranischen Filmemacher in den Olymp des Filmemachens, ans Ende der Stufen, die im Vorspann vor jedem Film in Cannes erklommen werden, aus den Tiefen des Ozeans, bis man bei den Sternen ankommt. Neben Michelangelo Antonioni ist er nunmehr der einzige Filmemacher, der den Goldenen Leopard in Locarno (1997 für „Ayneh“), den Goldenen Löwen in Venedig (2000 für „Der Kreis“), den Goldenen Bären in Berlin (2015 für „Taxi Teheran“) und die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat. Der Mann ist das Sinnbild für gesellschaftlichen Widerstand und politisches Rückgrat, für künstlerische Integrität. Er hat für seine Kunst gelitten, wurde drangsaliert, verhört, unter Hausarrest gestellt, vor Gericht verurteilt, mit Arbeitsverbot belegt, ins Gefängnis gesteckt. Und dennoch hat er nicht aufgehört, Filme zu machen, bisweilen unter abenteuerlichen Umständen und großer Gefahr, und unterstreicht mit seinem Schaffen, dass Kino eben mehr ist als Unterhaltung, sondern auch ein Instrument, um mit dem Träumen in Bildern in einem dunklen Saal den Mächtigen den Spiegel vorzuhalten und sich für einen menschlichen Umgang auszusprechen. „Un simple accident“ galt seit seiner Premiere am vergangenen Dienstag als ein klarer Favorit für die Goldene Palme. Der Film mag die Eleganz und Raffinesse eines „Sentimental Value“ oder „The Secret Agent“, die beiden anderen ganz großen Gewinner des 78. Festival de Cannes, vermissen lassen, er ist nicht so kunstvoll konstruiert und gewagt gedacht wie „In die Sonne schauen“ und „Sirât“ – nicht von ungefähr ex aequo mit dem Preis der Jury bedacht. 

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Jafar Panahi beim Photocall nach dem Gewinn der Goldenen Palme (Credit: Imago / Abacapress)

Aber gerade in seiner vermeintlichen Einfachheit, seiner direkten Erzählung findet „Un simple accident“, entstanden nach Panahis jüngster Inhaftierung, seine Wucht und Zeitlosigkeit. Nachdem er sich mit Mohammad Rasoulof und Mostafa al-Ahmad bei deren Aufrufen gegen Polizeigewalt in der Folge des Einsturzes einer Einkaufspassage in der südwestiranischen Stadt Abadan mit mehr als 40 Todesopfern im Mai 2022 solidarisch erklärt hatte, wurde Jafar Panahi im Juli des Jahres gezwungen, eine bereits 2010 verhängte Haftstrafe von sechs Jahren anzutreten. Im Februar 2023 kam er nach sieben Monaten wieder auf freien Fuß – zwischenzeitlich war der Gewinner des Goldenen Bären in Venedig für „No Bears“ mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet worden. In unserer Besprechung schrieben wir: „Es ist der erste Film, den der iranische Filmemacher seit seiner Freilassung gedreht hat. Die traumatische Erfahrung im Gefängnis spricht aus jedem Bild des Films, der gekennzeichnet ist von einer Bitterkeit, die man in Panahis Schaffen bislang nicht gefunden hat, einer Verarbeitung der Rachegedanken und Gewaltfantasien, die er gegenüber denen gehegt haben muss, die ihn festgehalten hatten.“ Und der dann doch die Größe findet, von Vergebung zu erzählen, vom Blick nach vorn. „Un simple accident“ ist damit die Essenz aller Filme in diesem Jahrgang in Cannes und ein würdiger Gewinner.

Eine Lanze für die Menschlichkeit

Und er spiegelt sich in seiner ultimativen Botschaft förmlich in „Sentimental Value“ von Joachim Trier, zum dritten Mal im Wettbewerb von Cannes, ein ganz anderer, mit höchstem Maß an filmischem und menschlichem Sachverstand realisierter Film über eine entzweite Familie, einen von seinen beiden Töchtern entfremdeten Vater, der nach Jahren versucht, sich mit einem neuen Filmstoff wieder anzunähern, also auch ein Film über Vergebung und Versöhnung, der andere große Favorit in Cannes eben, den vielleicht ich lieber mit Gold ausgezeichnet gesehen hätte, der aber auch keinen Deut schlechter ist, weil er nur den Großen Preis erhielt. Die deutschen Koproduzent:innen sind hier Jonas Dornbach und Janine Jackowski von Komplizen Film. Zwischen den beiden Welten, der politischen Botschaft und der kunstvollen Umsetzung, hält sich „The Secret Agent“ die Waage, die mit Hilfe von Fred Burle und Sol Bondy von der One Two Films realisierte brasilianische Produktion, mit der Kleber Mendonça Filho bei seinem dritten Auftritt im Wettbewerb von Cannes (nach „Aquarius“ und „Bacurau“) der dritte Abräumer des 78. Festival de Cannes war, einer der sehr wenigen Filme in Cannes, der zwei Preise im Wettbewerb entgegennehmen durfte (plus Prix Fipresci und Preis der französischen Arthousekinos). Eigentlich widerspricht das den Regularien des Festivals, die nach dem Durchmarsch von „Barton Fink“ im Jahr 1991 dahingehend angepasst wurden, dass ein Film nur noch einen Preis gewinnen darf – Ausnahmen müssten mit der Festivalleitung abgestimmt werden. Der leider absente Wagner Moura sicherte sich den Darstellerpreis, den in seiner Absenz der Regisseur entgegennahm. Wenig später kam noch der Regiepreis hinzu. Allerdings war Mendonça Filho schon gar nicht mehr im Saal, trank nach eigenem Bekunden hinter der Bühne bereits Champagner, weil er überzeugt war, nach dem einen Preis für Moura sei bereits Schluss. So kann man sich täuschen. Eine in dieser Form würdige Auszeichnung. Weil großer Film, der eine raffinierte Thrillerform findet, um über eine düstere Zeit der brasilianischen Geschichte erzählt.

Für die Freiheit, für die Fantasie

Und dann natürlich der fabelhafte Preis für Mascha Schilinski und „In die Sonne schauen“, der gerade im Zusammenspiel mit „Sirât“ von Óliver Laxe, in Koproduktion mit ZDF/Arte entstanden, (sowie dem Spezialpreis der Jury für den irre irrlichternden „Resurrection“ von Bi Gan) besonderen Sinn ergibt, weil damit eine Form des künstlerisch anspruchsvoll konzipierten und umgesetzen Kinos gefeiert wird, das qua seiner Umsetzung von Freiheit erzählt, der Freiheit der Gedanken und der Freiheit der Fantasie und daraus Geschichten spinnt, wie man sie nirgendwo anders erzählen kann als im Kino. Dem steht die Erdung und der zutiefst menschliche Blick der Dardenne-Brüder in „Jeunes mères“ und die handfeste und doch so zärtliche Darstellung von Nadia Melitti in „Die jüngste Tochter“ von Hafsia Herzi, eine Koproduktion mit Vanessa Ciszewski und Katuh Studio, entgegen. Und was ebenfalls auffällt bei der Preisverleihung: Der Blick der Jury galt der Welt, sie schloss indes das amerikanische Kino aus ihrer Berücksichtigung aus. Das hieß zwar, dass auch Richard Linklaters wunderbarer Publikumsliebling „Nouvelle Vague“ über die Dreharbeiten zu Godards „Außer Atem“ ausgeschlossen blieb, ebenso wie „Eddington“ und „Die, My Love“, aber es war eine konsequente Entscheidung, eine Haltung, die Rückgrat beweist und deren Symbolkraft von großer Bedeutung ist. 

Die Jury hat gesprochen

Bei der Pressekonferenz nach der Preisverleihung erklärte sich Juliette Binoche und sagte zur Goldenen Palme für „Un simple accident“: „Der Film entspringt einem Gefühl des Widerstands, des Überlebens, das heute absolut notwendig ist. Er ist sehr menschlich und gleichzeitig politisch, weil er aus einem komplizierten Land kommt. Als wir den Film sahen, stach er heraus.“ Und sie sagte ganz generell: „Die Kunst wird immer siegen. Das Menschliche wird immer siegen. Als Schauspieler, Regisseure und Menschen, die in der Kunst arbeiten, können wir uns öffentlich zu wichtigen Themen äußern und die Welt verändern. Wir leben in einer Welt, die von Rache und Gewalt beherrscht wird, und dieser Film handelt von jemandem, der diese Gewalt in seinem Leben erfahren hat. Die Tatsache, dass man in diesem Film über diese Veränderung sprechen kann, diese Veränderung, die keine Rache ist, die Idee, dass man zuhören kann, ohne unbedingt jemanden töten oder verprügeln zu wollen, gibt große Hoffnung. Wir hatten das Glück, dass dieser Film im Wettbewerb lief. So können wir über diese Themen sprechen. Man muss seine Sichtweise grundlegend ändern. Wir stecken im Schlamm der Gewalt, im Morast des Menschseins. Wir sind keine echten Menschen, wenn wir unsere Art, miteinander umzugehen, nicht zum Besseren verändern.“ Und der amerikanische Schauspieler Jeremy Strong fügte hinzu: „„Ich denke, es ist wichtig für uns, dass wir Filme würdigen wollten, die ebenso transzendent sind wie sie als Werke an sich sind. Juliette sprach davon, Sanftheit in die Welt zu bringen, De Niro sagte, Faschisten sollten Kunst fürchten. Ich finde, dass diese Auswahl diese Prinzipien widerspiegelt. Ibsen sprach vom Gedicht im Gedicht, dass man sein Lied versteht, wenn man das begreift. Ich finde, diese Filme enthalten Gedichte, die es uns ermöglichen, etwas Unfehlbares zu erfassen.“

Was für ein Jahr für das deutsche Kino

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Mascha Schilinski mit ihrem Preis der Jury (Credit: Imago / Abacapress)

Ein Rückblick auf das 78. Festival de Cannes kann nicht komplett sein, wenn man nicht unterstreicht, was für ein fabelhaftes Jahr es für deutsche Filmemacher und Produzenten war. Dazu gehören eben nicht nur die fabelhafte Mascha Schilinski mit ihrem singulären Ereignis „In die Sonne schauen“ und die vier weiteren deutschen Koproduktionen, die im Wettbewerb siegreich waren. Dazu gehören auch der Un-Certain-Regard-Gewinner „La misteriosa mirada del flamenco“ von Diego Céspedes, bei dem die Weydemann Bros. als Koproduzenten an Bord sind, und „Un poeta“ von Simón Mesa Soto, der im Un Certain Régard den Jurypreis gewann und in Koproduktion mit Ma.ja.de entstand. Dazu gehören auch Christian Petzold, der erstmals in Cannes vertreten war und in der Quinzaine mit „Miroirs no 3“ die Herzen eroberte, und Fatih Akin, der in Cannes Prèmiere mit seinem „Amrum“ für ihn aufregendes filmisches Neuland betrat, und „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Kirill Serebrennikov mit August Diehl in der Hauptrolle. Das deutsche Kino präsentierte sich stark und vital, zeigte viele verschiedene Facetten von Geschichten, die über Deutschland erzählten und nur in Deutschland realisiert werden konnten, hin zu einem kosmopolitischen Blick bei den internationalen Koproduktionen, zu denen im Wettbewerb auch noch „Zwei Staatsanwälte“ von Sergei Loznitsa, koproduziert von Looksfilm, und natürlich Wes Andersons in und mit Studio Babelsbergentstandener „Der phönizische Meisterstreich“ gehört. In einem rundum gelungenen Jahrgang in Cannes war das vielleicht der erfreulichste Aspekt, abgesehen davon, dass es Thierry Frémaux einmal mehr gelungen war, ein Schlaglicht auf die Vielseitigkeit des Weltkinos zu werfen und zu unterstreichen: Kein Moment ist schöner als der, wenn das Licht ausgeht und der erste Lichtstrahl auf die Leinwand trifft. Kein Moment vereint die Menschen mehr als dieser. 

Aus Cannes berichtete Thomas Schultze.