Eindringlicher Thriller in moderner Noir-Anmutung über einen britischen Tennislehrer auf Fuerteventura, der durch die Ankunft einer britischen Familie aus seiner Stasis geweckt wird.

FAST FACTS:
• Jan-Ole Gersters dritter Spielfilm, seine erste Arbeit in englischer Sprache
• Top-Besetzung mit Sam Riley, Stacy Martin, Jack Farthing
• Produktion der Kölner augenschein Filmproduktion, gedreht auf Fuerteventura
• Weltpremiere auf der 75. Berlinale im Berlinale Special Gala
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2025; Laufzeit: 123 Minuten; Regie: Jan-Ole Gerster; Drehbuch: Jan-Ole Gerster, Blaž Kutin, Lawrie Doran; Besetzung: Sam Riley, Stacy Martin, Jack Farthing, Dylan Torrell; Verleih: LEONINE Studios; Start: 8. Mai 2024
REVIEW:
Fast acht Minuten dauert die Plansequenz, mit der „Beruf: Reporter“ von Michelangelo Antonioni endet. Anfangs sieht man Jack Nicholson in einem knallroten Polohemd in seinem Zimmer, wie er aus dem Fenster blickt und sich dann auf das Bett legt. Die Kamera schwenkt nach oben, zunächst sieht man am unteren Bildrand noch Nicholsons Füße, dann bald schon nicht mehr. Ohne Schnitt blickt die Kamera durch das Fenstergitter nach draußen, fängt das Treiben dort ein. Undeutlich glaubt man im Hintergrund so etwas wie einen Schuss zu hören, während im Vordergrund immer wieder Figuren in knallroten Oberteilen vorbeilaufen. Die Kamera bewegt sich jetzt aus dem Fenster und kommt auf einem Polizeiauto zu ruhen, geht mit einem Polizeibeamten und anderen Beteiligten durch die Tür zurück ins Zimmer, wo nunmehr die Leiche Nicholsons auf dem Bett liegt, jetzt allerdings bekleidet mit einem schwarzen Polohemd. Das ist zugegeben eine ausschweifende Einleitung für eine Filmbesprechung des neuen Films von Jan-Ole Gerster, seine dritte Regiearbeit nach seinem multiplen Deutscher-Filmpreis-Gewinner „Oh Boy“ und „Lara“, aber diese berühmte, endlos diskutierte Sequenz aus dem Antonioni-Film von 1975 umschreibt sehr gut, wie sich „Islands“ anfühlt, dieses kluge und filmisch reife und ausgereifte Rätselspiel unter der brütenden Sonne Fuerteventuras: Es erscheint zunächst ganz klar, worum es geht, wer die Figuren sind, wie die Rollen verteilt sind, dann beginnt der Blick zu wandern, der Ton sich zu ändern, Möglichkeiten sich anzudeuten, manchmal verharrt der Film, dann scheucht er einen weiter – hier gibt’s nichts zu sehen! -, um dann wieder da anzukommen, wo die Geschichte begonnen hat: Alles ist so, wie es war. Und doch ganz anders. Großes Kino. Ein Kamel spielt mit.
„Islands“ ist ein Film, der gekommen ist, um zu bleiben. Er ist so angelegt, umgesetzt und erzählt, dass man ihn in zehn Jahren immer noch so grandios findet wie jetzt, Zeitlosigkeit mit Ansage, eine Verbeugung vor der Filmgeschichte, von der dieser Film fortan ein Teil sein will, der genannt werden will mit Titeln, die vielleicht Vorbilder waren, vielleicht einfach nur im Zuschauer ein Gefühl auslösen, die ihn erinnern daran, wie es war, als man zum ersten Mal „Nur die Sonne war Zeuge“ oder „Swimming Pool“ gesehen hat: René Clement und Jacques Deray Redux. Als hätte Antonioni sich an eine Highsmith-Verfilmung gewagt, „L’avventura“ meets Ripley. Dass die Hauptfigur Tom heißt und man sich aussuchen kann, ob Sam Riley eher wie der junge Nicholson oder der mittelalte Delon aussieht, auch wenn seine Stimme klingt, als würde er Glasscherben mit Tullamore Dew gurgeln, ist ein starker Hinweis, dass auch Jan-Ole Gerster sich dessen bewusst gewesen sein muss, als er seinen ersten englischsprachigen Film mit der Kölner augenschein Filmproduktion in Angriff genommen hat: Sein Film atmet Filmgeschichte und ist doch ganz unaufdringlich und vor allem unprätentiös, wie er eine „story about nothing“ (Grüße an „Seinfeld“) erzählt, als enthielte sie alle Antworten auf existenzialistische Fragen, obschon sie doch nur in ihrem eigenen Saft schmort.
Es geht also um einen Tennislehrer auf Fuerteventura, der die sonnengegerbte Haut und die zusammengekniffenen Augen hat, um zu attestieren, dass er in dem Touristenhotel, wo er angestellt ist, schon tausende Stunden Tennisbälle übers Netz befördert hat, um untalentierten Menschen den Sport beizubringen, der ihm einmal alles bedeutet hat. Einst, so geht die Sage und Tom muss dann immer dazu nicken, habe er Nadal seine Aufschläge um die Ohren gehauen. Sollte er jemals weiterreichende oder darauf aufbauende Ambitionen gehabt haben, so ist davon nichts übriggeblieben. Wie die Tennisanlage, auf der sich sein Leben tagsüber abspielt, hat er bessere Tage gesehen, der Lack ist ab, nichts geht mehr. Fuerteventura ist eine schöne Insel, aber für Tom ist sie ein Vorhof der Hölle geworden, ein Limbo für Lebende, für die das Dasein eine fortwährende Warteschleife ist. Bis Tom eine britische Familie kennenlernt. Anna, gespielt von Stacy Martin, die man gerade auch in einer kleinen Rolle in „Der Brutalist“ bewundern kann, meldet ihren Sohn für Tennisstunden bei ihm an, man kommt ins Gespräch, am Abend sitzt Tom mit Anne und ihrem Mann Dave, gespielt von Jack Farthing, unlängst umwerfend gut in der HBO-Miniserie „Rain Dogs“, der so britisch aussieht mit seinem Bassett-Gesicht, dass man ihm den Prinz Charles in „Spencer“ sofort abgenommen hat, beim Dinner. Man versteht sich. Die Handlung setzt sich in Bewegung, das Drama nimmt seinen Lauf.
Geschickt legt Jan-Ole Gerster Fährten aus, klug lässt er eine sexuelle Spannung entstehen, die mehr sein könnte oder auch nicht. Alles bleibt angedeutet, comme çi comme ça, alles könnte etwas bedeuten. Déjà Voodoo. Nach einer durchzechten Nacht verschwindet Dave spurlos, „Islands“ fächert zahllose Möglichkeiten auf. Ein Polizist erscheint. Es wäre falsch zu sagen, dass der Film auf einmal ein Thriller werden würde, ebenso wie es falsch wäre, Anne als Femme fatale zu bezeichnen. Es ist vielmehr, als würde der Film abschmecken, wie es sein könnte, wenn er ein Thriller sein wollte oder Anne eine Femme fatale sein sollte. Oder ein erotisches Drama. Oder eine Dreiecksgeschichte. „Islands“ bietet an, deutet an, schlägt vor. Tom malt sich aus, wie es wohl wäre, wenn er Daves Platz einnehmen würde und auf einmal Patriarch sein könnte, auch wenn eine willensstarke Frau wie Anne das niemals zulassen würde. Sie ist die einzige starke Figur in diesem Dreieck. Die Männer sind schwach, Hahnreie, Tennislehrer. Vielleicht steckt ja auch mehr dahinter, dass Anne ausgerechnet auf Fuerteventura Urlaub machen wollte, eine gemeinsame Vergangenheit vielleicht? Ein Film, wie durch den Zerrspiegel gedreht, eine Meditation über verpasste Chancen und ein nicht gelebtes Leben. „Beruf: Tennislehrer“ sozusagen, begleitet von einer Musik von Dascha Dauenhauer, die dem monströsen Dröhnen von „Kein Tier. So Wild.“ jetzt einen groovy Orchesterscore mit Bläsern folgen lässt, der Fünfziger-, Sechzigerjahre impliziert, Michel Legrand oder Georges Gavarentz, und doch ganz modern ist und sich in die fabelhaften Scope-Bilder von Kameramann Juan Sarmiento G. schmiegt. Der Zabriskie Point könnte hinter jeder Anhöhe warten. Die Explosion in Zeitlupe? Ist der ganze Film. Ganz cool. Ka-wumm.
Thomas Schultze