In seiner Heimat Norwegen ist Dag Johan Haugerud mit seinen Romanen und Filmen längst ein geschätzter Chronist der Gesellschaft. Mit seinen „Oslo-Stories“ wird er nun auch über die Grenzen seines Landes hinaus spannend: Für „Träume“ konnte er den Goldenen Bären gewinnen. Wir haben uns mit ihm über seine ungewöhnlichen Filme unterhalten, die von Alamode in die Kinos gebracht werden.
Als er noch nicht in Teilen der Gesellschaft als Persona non grata behandelt wurde, wurde Woody Allen in einer Pressekonferenz gefragt: „Sex, what about it?“ In Ihrer Trilogie sprechen Sie Sexualität ganz offen und freizügig an. Darf ich Ihnen also auch diese Frage stellen: Sex, what about it?
Dag Johan Haugerud: Ernsthaft?
Ernsthaft!
Dag Johan Haugerud: Okay, ich spiele mit. Grundsätzlich gesprochen, spielt Sexualität im Leben jedes Menschen auf die eine oder andere Weise eine große Rolle. Alle Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, sexuelle Bedürfnisse. Was Sexualität anbetrifft, kann mich eigentlich nichts überraschen. Mit der Trilogie habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, mich intensiver damit zu befassen, auch mit meiner eigenen Haltung auseinanderzusetzen. Ich wollte erforschen, wie Sexualität uns durch unser Leben führt. Ob man sie lieber versteckt, ob man offen damit umgeht. Wie man herausfindet, was man wirklich will. Das ist ein spannender Prozess. Man kann sich dabei öffnen oder verschließen. Das bleibt jedem selbst überlassen. So unterschiedlich wir sein mögen, eint uns doch alle, dass Sexualität eine wichtige Rolle spielt und man für sich herausfinden muss, wie man damit umgeht.
Umso kurioser ist es doch, dass das in Filmen selten offen behandelt wird, zumindest sind Arbeiten wie die Ihren sehr selten. Unser Umgang mit Sexualität, auch im Kino, scheint immer mit einem gewissen Regelwerk verbunden zu sein und einer bestimmten Bewertung.
Dag Johan Haugerud: Es gibt nicht den einen richtigen Weg, auf Sexualität zu blicken. Es gibt allerdings einen Weg, ehrlich über Sexualität zu reden. Das habe ich versucht, in allen drei Filmen der Trilogie, die in meinen Augen sehr unterschiedlich sind, mit aber die Möglichkeit gegeben haben, jeweils ganz anders auf die drei Themen zu blicken, die sich wie ein roter Faden durchziehen und den Filmen ihren Titel gegeben haben: Sex, Träume, Liebe.
Hatten Sie von Anfang an eine Trilogie im Sinn?
Dag Johan Haugerud: Nicht von Anfang an. „Sex“ habe ich als erstes geschrieben, eigentlich hatte ich zunächst tatsächlich nur an einen Kurzfilm fürs Kino gedacht, 60 Minuten und gut. Wir bekamen diese Idee nicht finanziert, der Film war zu kurz. Ich mochte den Stoff, hatte aber keine Lust auf das gängige 90-Minuten-Format – deshalb ja der Kurzfilm-Ansatz. Etwas so Konventionelles sah ich nicht als Herausforderung an, das hatte ich schon gemacht. Also warf ich mir selbst den Fehdehandschuh hin: Ob ich es wohl schaffen würde, drei verschiedene, in sich abgeschlossene Filme zu schreiben, die sich um dieselben Themen drehen. Ich wusste, um was in „Sex“ gehen sollte. Genauso wusste ich, dass man diese Themen niemals endgültig abhandeln würde können. Warum also nicht drei verschiedene Perspektiven dazu, als Vorschlag, als Diskussionsgrundlage? So aberwitzig diese Idee klingen mag, dafür erhielten wir die Finanzierung, die uns zuvor verweigert worden war. Merke: Drei Filme sind leichter zu finanzieren als ein Kurzfilm.
„Offenkundig hatte ich so etwas noch nie gemacht, und ich wusste selbst nicht genau, was davon zu erwarten war. Nach und nach wurde mir klarer, was ich machen wollte.“
Dag Johan Haugerud
Eben, lass es uns mit etwas Schwierigerem versuchen…
Dag Johan Haugerud: Als ich darüber nachzudenken begann, wurde es schnell mehr als eine Schnapsidee. Im Gegenteil: Das gefiel mir richtig gut. Es war eine großartige Herausforderung. Offenkundig hatte ich so etwas noch nie gemacht, und ich wusste selbst nicht genau, was davon zu erwarten war. Nach und nach wurde mir klarer, was ich machen wollte. Drei unabhängige Filme, alle angesiedelt in Oslo, alle mit den Themenkomplexen Sex, Träume, Liebe, jeder Film mit anderen Figuren und damit auch verschiedenen Schauspielern, mit einer Ausnahme wohlgemerkt, jeder Film mit anderem Look and Feel, aber gemacht von der jeweils selben Crew. Die Aussicht darauf machte mir Lust. Ehrlich gesagt, könnte ich direkt weitermachen und weiter Filme über diese Themen machen…
Warum auch nicht… Sind doch gute Themen…
Dag Johan Haugerud: Allen drei Filmen wohnt die Überzeugung inne, dass Sexualität, sexuelle Begierde nichts Gefährliches ist. Ich höre das immer wieder, man erzählt mir tatsächlich, dass man Sexualität als etwas Bedrohliches erachtet. Nun muss ich anmerken, dass ich während Aids aufgewachsen bin, in einer Zeit, in der Sex tatsächlich etwas potenziell Todbringendes sein konnte. Vielleicht ist das aber auch der Grund, warum es mir so wichtig ist, einen anderen Blick auf Sexualität zu werfen, das Stigma zu beseitigen. Ich will andere Aspekte behandeln, ich sehe Sex als eine befreiende Kraft, erfüllter Sex ist etwas Positives, macht Spaß, macht unser Leben besser und lebenswerter. Davon wollte ich erzählen, aber nicht platt, nicht mit Ausrufezeichen.
„Sex“ – der „Sehnsucht“ als deutschen Verleihtitel trägt – feierte dann Premiere auf der Berlinale 2024. Obwohl „Träume“ als Teil 2 konzipiert war, lief dann im Wettbewerb von Venedig aber „Liebe“ – und „Träume“ ist nun der Abschluss auf der Berlinale 2025.
Dag Johan Haugerud: Wie das genau gekommen ist, kann ich auch nicht sagen. Wir hatten „Träume“ und „Liebe“ beide für Venedig eingereicht, aber auch schon die Berlinale wieder im Blick. Alberto Barbera hatte eine Präferenz für „Liebe“, Tricia Tuttle mochte „Träume“.
Hat das Ihre Pläne gestört?
Dag Johan Haugerud: Es spielt eigentlich keine Rolle, in welcher Reihenfolge man die Filme sieht. Meine präferierte Abfolge ist jedoch „Sehnsucht“, „Träume“, „Liebe“. Und zwar weil es wie gesagt eine Figur gibt, die in allen drei Filmen vorkommt. Und die Logik seines Handlungsbogen würde die von mir bevorzugte Reihenfolge nahelegen. Muss aber nicht sein. Echt sein. Die Filme sprechen miteinander, in welche Folge auch immer man sie zeigt oder sieht. Man muss auch nicht alle gesehen zu haben, obwohl ich mich darüber natürlich freuen würde. Ich muss aber auch gestehen, dass ich mir die drei Filme selbst noch nie hintereinander angesehen habe. Und ich weiß auch nicht, ob ich es jemals machen würde. Ich spreche also rein hypothetisch. Jeder muss für sich selbst herausfinden, wie er die Trilogie ansehen will.
„Es spielt eigentlich keine Rolle, in welcher Reihenfolge man die Filme sieht. Meine präferierte Abfolge ist jedoch ,Sehnsucht’, ,Träume’, ,Liebe’.“
Dag Johan Haugerud
Ich liebe an der Trilogie, was Sie angesprochen haben: Die Filme entstammen offenkundig derselben Stimme, fühlen sich aber doch jeweils ganz eigen und distinktiv an.
Dag Johan Haugerud: Wenn Sie das so empfinden, freut mich das sehr. So war es von uns gedacht! Die Filme sollten verschieden sein. Wir wollten experimentieren, verschiedene Formate und Formen ausprobieren. Jeder Film steht auch für einen anderen Blick auf Oslo.
Wie groß ist der Einfluss der Stadt auf die Trilogie?
Dag Johan Haugerud: Es ist eine Stadt, die sich fortwährend wandelt und weiterentwickelt, wie man es sich für Menschen erhoffen würde. Sie ist traditionell, hat aber auch keine Angst vor der Zukunft. Ich selbst komme nicht aus Oslo, habe aber natürlich mitverfolgt, dass sich die Stadt in den letzten 20 Jahren teilweise drastisch verändert hat. Ich wollte das in meinen Filmen festhalten und herausfinden, was da gerade passiert, was es bedeutet für die Menschen, die in Oslo leben. Wie fügen sich das alte und das neue Oslo ineinander, was gewinnen wir, was verlieren wir? Ich will die verschiedenen Teile der Stadt auf verschiedene Weise zeigen, letztlich in direkter Linie mit den Figuren und den Themen der Filme, für die dasselbe gilt. In „Sehnsucht“ sind es die neu errichteten Stadtviertel, die sich unmittelbarer Nähe des Stadtkerns befinden, in „Liebe“ geht es um das alte Oslo, um das Rathaus, die Fjorde, und „Träume“ geht in die wohlhabenden Ecken der Stadt.
In allen diesen Teilen der Stadt finden sich in Ihren Filmen vernunftbegabte Menschen: Es wird viel geredet und debattiert, aber niemals erhebt jemand seine Stimme oder wird laut.
Dag Johan Haugerud: Die Lautstärke selbst war mir nicht so wichtig. Mir war es indes wichtig, dass nicht gestritten wird, dass niemand versucht, dem anderen seine Meinung aufzudrängen. Die Darsteller:innen sollten nicht konfrontativ sein. Was nicht heißt, dass es im Drehbuch keine Konflikte gäbe. Ich wollte nur anders damit umgehen. Wenn die Leute sich anschreien, gibt es keinen Ausweg mehr. Lautstärke gewinnt gegen Ideen. Mir geht es aber um die Ideen. Mir geht es darum, dass man zuhört, was andere zu sagen haben. Wenn man nicht den Konflikt sucht, kann man sich viel länger und intensiver unterhalten. Der Dialog wird tiefgründiger geführt. Wenn man aufgebracht ist oder wütend, endet der Dialog. Anders kommuniziert man besser, hat man mehr vom Gespräch.
Wenn Sie Ihre Szenen schreiben, wissen Sie dann schon, wohin Sie gehen wollen, was passieren wird?
Dag Johan Haugerud: Ich wollte diese Filme schreiben, weil es genau diese Themen sind, mit denen ich selbst ringe. Es sind Dinge, über die ich nachdenken, die mich beschäftigen, die ich gerade lese vielleicht. Ich lese sehr viel. Wenn Sie „Träume“ sehen, werden sie feststellen, dass es zumindest in Teilen genau darum geht. „Liebe“ zum Beispiel greift beispielsweise sehr direkt gewisse Themen aus dem Buch „The Lonely City“ von Olivia Laing auf, ich münze es aber auf meine Gedankenwelt um – übrigens auch wieder etwas, was ich in „Träume“ direkt anspreche. Die Arbeit an den Drehbüchern hilft mir, meine Gedanken zu ordnen, Licht ins Dunkel zu bringen, wenn man so will. Es ist also durchaus so, dass ich zwar genau weiß, worum sich die Gespräche drehen werden, aber ich bin eigentlich ergebnisoffen, bin neugierig, wohin mich die Dialoge und Debatten führen.
Sie waren bislang im Grunde ausschließlich in Norwegen erfolgreich. Dank Ihrer Trilogie nimmt man Sie erstmals im Ausland wahr. Wie erleben Sie das?
Dag Johan Haugerud: Es ist eine gute Erfahrung. Es tut mir gut. Venedig hat Spaß gemacht, war aber auch etwas befremdlich, weil es mir dort mehr um den Glamour zu gehen scheint als um das Kino. Venedig bietet sich als Stadt für so etwas an, für diesen etwas altmodischen Blick darauf, was das Kino und was Filmstars sind. Das erlebe ich in Berlin anders, was aber auch der Stadt liegen mag, die mir wirklich liegt.
Aber war es denn eine bewusste Entscheidung von Ihnen als Künstler, Ihre Blase in Norwegen verlassen zu wollen?
Dag Johan Haugerud: Wenn ich ehrlich bin, hätte ich das schon früher machen sollen. Es ist also auf jeden Fall nicht zu früh.
Das Gespräch führte Thomas Schultze.