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REVIEW VENEDIG: „Stranger Eyes“

Hintergründiger Voyeurismusthriller über ein junges Paar in Singapur, das verzweifelt nach seiner spurlos verschwundenen einjährigen Tochter sucht.

CREDITS:
Land / Jahr: Singapur, Taipei, Frankreich, USA 2024; Laufzeit: 125 Minuten; Regie & Drehbuch: Yeo Siew Hua; Besetzung: Wu Chien-Ho, Lee Kang-Sheng, Anicca Panna, Vera Chen, Pete Teo, Xenia Tan, Maryanne Ng-Yew

REVIEW:
„Was siehst du in mir“, sagt eine Figur im Verlauf von „Stranger Eyes“ zu einer anderen. Wie allein der Titel auch schon andeutet, geht es in dem neuen Film von Yeo Siew Hua, der nach „A Land Imagined“ (Gewinner des Goldenen Leopard in Locarno 2018) seine zweite, ungemein reife Arbeit vorstellt, von der dem Vernehmen nach das Auswahlkomitee in Venedig schwer beeindruckt war, um das Sehen und Gesehenwerden, ein zunächst undurchsichtiger Thriller, der seine vielen Geheimnisse erst nach und nach offenbart in einer verschlungenen Erzählung, die mehr oder minder eine weit ausholende Kreisbewegung macht. Und der es auf stringente, fast spielerisch, nie verkrampft wirkende Art gelingt, den Fokus wie selbstverständlich von einer Figur zu anderen zu lenken und unterwegs neue Charaktere einzuführen, die ihrerseits wieder in den Mittelpunkt rücken. Sehr beeindruckend ist das und auf verblüffende Weise anrührend. Was der eine in dem anderen sieht, geht als Lernerfahrung auf ihn über.

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„Stranger Eyes“ von Siew Hua Yeo (Credit: Akanga Film Asia Grace Baey)

Sehr früh gibt es eine Ansicht, da blickt ein junges Paar über das Atrium auf die andere Seite seines riesigen Wohnkomplexes in Singapur, von einem Fenster zum nächsten, was die Menschen dort treiben mögen. Hitchcock lässt grüßen, überdeutlich, dabei hat „Stranger Eyes“ mehr gemeinsam mit „Blow-Up“/Blow Out“ oder „Caché“, ist ein Puzzlespiel, eine mysteriöse Detektivarbeit, es geht um Überwachung, Voyeurismus, Paranoia und Einsamkeit. Wer weiß was? Wer hat was gesehen? Wer hat wen wann gefilmt? Gefilmtes Bild legt sich über gefilmtes Bild, bisweilen vierfach. Welche Rolle spielt die Kamera, die die Handlung einfängt, welche Rolle der Zuschauer, der zusieht, wie andere Bewegtbild betrachten, in denen Menschen sich filmen und betrachten? Und überall stehen Kameras und beobachten und filmen mit. Wer sieht es, und was fängt man damit an?

Bestenfalls zwei Minuten habe er mit seiner Mutter telefoniert und nicht aufgepasst, beteuert Junyang, ein junger Mann Anfang 20, auch Monate später noch: Diese Zeit hat ausgereicht, dass seine einjährige Tochter Bo spurlos vom Spielplatz verschwinden konnte, umgeben von anderen Eltern und vielen Kindern. Der unfassbare Verlust verzehrt seine Beziehung mit Peiying, eine erfolgreiche DJane auf YouTube, die obsessiv ihre Handyvideos mit ihrer Tochter durchforstet, ob es nicht einen Hinweis auf ihren Verbleib geben könnte, wer sie entführt hat. Als unter ihrer Haustür eine DVD durchgeschoben wird, auf der sich Filmaufnahmen von ihnen und ihrer Tochter befinden, offenkundig von einem Beobachter gefilmt, und daraufhin immer wieder neue Filme bei ihnen landen, mahnt die Polizei zur Ruhe. Auf keinen Fall sollten sie selbst aktiv werden. Genau. Das junge Paar nimmt die Dinge selbst in die Hand, gerade weil sie nicht ehrlich zueinander sind, weil sie Dinge voreinander verbergen. Die sich immer schwerer verheimlichen lassen, nicht nur weil immer mehr von den Filmen auftauchen, sondern auch alsbald klar ist, wer die Filme gemacht hat.

Daraus entwickelt sich ein immer vertrackteres Handlungsdreieck, das den Druck auf die Beziehung des Paares erhöht und beide auf jeweils unterschiedliche Weise enger an den einsamen Nachbarn von gegenüber rückt, der als Manager in einem Supermarkt arbeitet und mit seiner Mutter zusammenlebt, die fast nicht mehr sehen kann. „Stranger Eyes“ geht ungewöhnliche Wege, fühlt sich manchmal nach Hirokazu Kore-eda an, dann wieder wie ein Begleitfilm von Lee Chang-dongs Meisterwerk „Burning“, das sein großes Geheimnis ebenso ganz lange nicht offenbart. All diese verschiedenen Referenzen greifen dann doch ins Leere, weil Yeo Siew Hua einen ganz eigenen Film gedreht hat, dem man fasziniert ZUSIEHT, durch jede neue Wendung folgt, um am Schluss dann völlig überrascht zu sein, wie emotional diese Geschichte ist, wie sehr man gerührt ist. Weil es nicht darauf ankommt, was man sieht, sondern was man fühlt. Großes Arthouse aus Singapur. Was für eine schöne Überraschung am Ende der Mostra. 

Thomas Schultze