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REVIEW VENEDIG: „Vermiglio“

In ruhigen Bildern erzähltes und doch intensives Drama über die Töchter einer Familie in den Südtiroler Bergen, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein prägendes Jahr erleben.

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Maura Delperos „Vermiglio“ (Credit: Mostra Venedig)

CREDITS:
Land / Jahr: Italien, Frankreich, Belgien 2024; Laufzeit: 119 Minuten; Regie & Drehbuch: Maura Delpero; Besetzung: Tommaso Ragno, Giuseppe De Domenico, Roberta Rovelli, Martina Scrinzi, Orietta Notari, Carlotta Gamba, Santiago Fondevila Sancet, Rachele Potrich, Anna Thaler

REVIEW:
Zutiefst persönlich ist die neue Regiearbeit von Maura Delpero geraten, die 2019 mit „Maternal“ im Wettbewerb des Locarno Film Festival, damals kuratiert von Lili Hinstin, eine besondere Erwähnung erhalten hatte. Die Italienerin, die in Buenos Aires studiert hat, wo auch „Maternal“ spielt, kehrt damit zurück in ihre Heimat, das kleine Bergdörfchen „Vermiglio“ in Südtirol, wo sie im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs einmal durch die vier Jahreszeiten geht. Der Patriarch und Dorflehrer spielt seinen Schülern als Wink mit dem Zaunpfahl sogar Vivaldi vor. Um seine Familie wird es gehen, die in Armut, Bescheidenheit und Gottesfürchtigkeit lebt. Ein einfaches Leben wird gezeigt, das aus Arbeit, Schinderei und Entbehrungen besteht. Mit langen Einstellungen hält Maura Delpero dieses Leben fest, in einem Fanal aus Grau- und Blautönen, in denen die Menschen förmlich mit ihrer Umwelt verschmelzen, den ungeschlachten Häusern, den kargen Stuben, der unberührten Natur. Sieben Kinder hat die Frau dem Dorflehrer bereits geboren. Es gibt einen älteren, fast erwachsenen Jungen namens Dino, der von seinem Vater verachtet wird, obwohl er ein guter Kerl ist, der sich um drei viel jüngere Brüder kümmert. Der allerjüngste Bruder kränkelt, Schwindsucht, er wird nicht überleben.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen indes die drei Töchter des Lehrers, die älteste, schon erwachsene Lucia, die fast erwachsene Ada und die an der Schwelle zur Jugend stehende Livia. Weil es sich die Familie nur leisten kann, eine der beiden jüngeren auf die fortführende Nonnenschule in Trient zu schicken, muss eine Entscheidung getroffen werden, die andere wird dazu verdammt sein, möglichst gut verheiratet zu werden. Jeder in der Familie hat ein Geheimnis, verbirgt etwas vor den anderen. Ada versteckt sich im Spalt hinter dem Wandschrank und berührt sich heimlich zwischen den Beinen, wofür sie sich zunehmend rigider bestraft. Der Vater verwahrt in der abgesperrten Schublade seines Schreibtischs neben Zigaretten auch eine Kladde mit Fotos unbekleideter Frauen. Und Lucia trifft sich heimlich mit dem Deserteur Pietro aus Sizilien, der mit einem Neffen der Kinder aus Deutschland aus dem Krieg geflohen ist und in einer Scheune haust, obwohl er von den Dorfleuten argwöhnisch betrachtet wird. Lucia wird ihn heiraten, nachdem er sie geschwängert hat. Wie alle anderen weiß aber auch sie nicht, dass Pietro das größte Geheimnis von allen hat. Ein Geheimnis, das das komplette Gefüge der Familie aus dem Gleichgewicht bringen wird. 

Selbstbewusste Sprünge macht die Handlung, vieles muss man als Zuschauer selbst einfügen. Was nicht schwer ist, weil so erschütternd viel nicht passiert da oben auf dem Berg, abgeschnitten von der Außenwelt. Und doch wird es ein formatives Jahr sein, das für alle Beteiligten die Weichen stellt fürs Leben, auch wenn sich nichts jemals wirklich verändert in diesem Kreislauf aus Leben, Schuften und Sterben. Der Film lässt den Zuschauer Anteil haben an dieser entschleunigten Existenz, an den Dramen und der Verzweiflung, die fest zum Alltag gehört in „Vermiglio“, der noch jeden gebrochen hat, der nicht völlig tumb ist, wie es viele Bewohner dort sind. Schnell wird der Stab gebrochen über andere Menschen, und man ist zutiefst berührt, wie die Frauen in dieser Welt, wo nur Glück darüber entscheidet, dass man nicht einfach Verschiebemasse in einer von Männern dominierten Realität wird. Das geht an die Nieren. Eine lohnende Filmerfahrung. 

Thomas Schultze